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„Werden Sie die Zeitzeugen, die wir nicht mehr lange sein können“

Die 97 Jahre alte Margot Friedlander hat den Holocaust überlebt – auf Einladung eines Geschichtsstudenten las sie an der Freien Universität aus ihrer Biografie und lud zum Gespräch mit Studierenden

22.08.2019

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer (Jahrgang 1921) hat am 21. August an der Freien Universität über ihre Erinnerung an die Verfolgung als Jüdin durch die Nationalsozialisten gesprochen. Hier sieht man sie vor der Rostlaube.

Margot Friedlander besuchte die Freie Universität, um aus ihrer Autobiografie zu lesen und mit Studierenden zu sprechen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Ich bin nach Deutschland zurückgekommen, um mit Ihnen zu sprechen, Ihnen die Hand zu reichen und Sie zu bitten, dass Sie die Zeitzeugen werden, die wir nicht mehr lange sein können“, sagte Margot Friedlander am gestrigen Mittwochabend an der Freien Universität. Vor mehr als 200 Zuhörerinnen und Zuhörern, die meisten von ihnen Studierende, erzählte die 1921 Geborene in einem Hörsaal ihre Geschichte als Jüdin im nationalsozialistischen Berlin.

„Mich hat dieser Satz besonders beeindruckt“, sagt Vincent Bruckmann. Der Geschichts- und Politikwissenschaftsstudent hatte Margot Friedlander an die Freie Universität eingeladen. Kennengelernt hatte er sie im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung der Bundeszentrale für Politische Bildung – und nach ihrer Lesung angesprochen: Ob sie sich vorstellen könne, auch einmal an die Freie Universität zu kommen.

Die Studierenden Vincent Bruckmann und Janne Schleifer hatten den Vortrag an der Freien Universität organisiert.

Die Studierenden Vincent Bruckmann und Janne Schleifer hatten den Vortrag an der Freien Universität organisiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Ich hatte das Bedürfnis, es noch mehr Leuten zu ermöglichen, diese Frau zu erleben und ihre Geschichte zu hören, damit wir die Aufgabe übernehmen können, die sie uns anträgt. So können wir dafür sorgen, dass das nicht noch mal passiert.“ Sie habe sofort eingewilligt, freut sich der Student. „Ich dachte, dass die Universität ein guter Ort wäre, da sich Frau Friedlander vor allem an junge Menschen richtet.“ Mit seiner Kommilitonin Janne Schleifer vom Kulturreferat des AStA finanzierte und organisierte der 24-Jährige die Lesung, anschließend moderierte er das Gespräch.

Margot Friedländer las aus ihrer 2010 erschienenen Autobiografie „Versuche, dein Leben zu machen“.

Margot Friedländer las aus ihrer 2010 erschienenen Autobiografie „Versuche, dein Leben zu machen“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Versuche, dein Leben zu machen“ heißt Margot Friedlanders 2010 erschienene Autobiografie, aus der sie las. Es sind gleichzeitig die letzten Worte, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat – mündlich weitergegeben von einer Nachbarin. Margot Friedlander, damals noch Margot Bendheim, erzählt darin, wie sie sich im Berlin der 1940er-Jahre 15 Monate lang versteckt halten musste, nachdem die Mutter und der Bruder von der Gestapo abgeholt worden waren. Die damals 21-Jährige entfernte den gelben Judenstern und legte sich eine Kette mit Kreuzanhänger um den Hals. Die schwarzen Haare färbte sie rot, um nicht als Jüdin erkannt zu werden. Sie tauchte unter – bis sie im Frühjahr 1944 auf der Straße von zwei Greifern angehalten und nach ihren Papieren gefragt wurde.

Friedlanders Geschichte bewegt sich zwischen der Erfahrung von Zugehörigkeit und Verlassenheit. Von der Mutter und dem Bruder getrennt, ist sie plötzlich auf sich allein gestellt. Von ihren Helfern, die ihr Schutz gewähren, erfährt sie Solidarität. Als Jüdin verfolgt und entrechtet, lebt sie in ständiger Angst vor der Entdeckung.

Vor mehr als 200 Zuhörerinnen und Zuhörern erzählte Margot Friedländer ihre Geschichte als Jüdin im nationalsozialistischen Berlin.

Vor mehr als 200 Zuhörerinnen und Zuhörern erzählte Margot Friedländer ihre Geschichte als Jüdin im nationalsozialistischen Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die beiden Männer führen die junge Frau ab, weil sie sich nicht ausweisen kann. Friedlander liest: „Auf dem Weg zur Wache entschließe ich mich, die Wahrheit zu sagen: ‚Ich bin jüdisch‘, sage ich. ‚Ich bin jüdisch.‘ Indem ich es aussprach, war ich wieder mit dem Schicksal meiner Familie und aller anderen Juden vereint. Was immer jetzt mit mir geschehen würde, ich war nicht mehr allein. Aus dem ‚Ich‘ war wieder ein ‚Wir‘ geworden.“

Sie wird in das Ghetto Theresienstadt deportiert, ein Transitlager, um die Menschen weiter in den Osten, in den Tod zu schicken. In Theresienstadt trifft sie ihren zukünftigen Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kennt. Beide überleben. Nach der Befreiung durch die Rote Armee hören sie zum ersten Mal den Namen „Auschwitz“, sehen die halbtoten, ausgemergelten Körper, die in Zügen aus dem Osten in Theresienstadt einrollen.

Margot Friedlanders Botschaft an die Anwesenden: „Ich habe eine Mission. Ich spreche nicht für mich. Was war, können wir nicht mehr ändern. Aber es darf nie wieder geschehen. Nie wieder. Für euch, nur für euch.“

Margot Friedlanders Botschaft an die Anwesenden: „Ich habe eine Mission. Ich spreche nicht für mich. Was war, können wir nicht mehr ändern. Aber es darf nie wieder geschehen. Nie wieder. Für euch, nur für euch.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

1946 emigrierte Margot Friedlander mit ihrem Mann in die USA. Aus Friedländer wird Friedlander. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1997, begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, die 2004 in einem Dokumentarfilm verarbeitet wurden. Für die Dreharbeiten kehrte sie erstmals in ihre Geburtsstadt zurück – und war „sofort wieder Berlinerin“. Nachdem sie Deutschland mehrmals für Lesungen besucht hatte, entschied sie sich zu bleiben: Im Februar 2010 löste die damals 89-Jährige ihre New Yorker Wohnung auf und zog nach Berlin. Der Grund: „Ich habe eine Mission. Ich spreche nicht für mich. Was war, können wir nicht mehr ändern. Aber es darf nie wieder geschehen. Nie wieder. Für euch, nur für euch.“

Was sie dafür tun könnten, damit sich die Geschichte nicht wiederhole, fragte eine Studentin Margot Friedlander nach deren Lesung. „Mensch sein“, antwortete diese, „einfach nur Mensch sein.“ Vincent Bruckmann will mit Margot Friedlander im Gespräch bleiben: „Die Begegnung mit Margot Friedlander berührt mich jedes Mal aufs Neue. Sie spricht auch für die vielen, die nicht überlebt haben. Wir müssen ihr ganz genau zuhören, solange es noch geht.“ Margot Friedlander will ihre Mission, solange wie möglich, erfüllen.