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Mensch und Meer

Die Meeresbiologin Antje Boetius hielt die 20. Einstein Lecture an der Freien Universität Berlin

25.10.2021

Die Meeresforscherin Antje Boetius lehrt als Professorin für Mikrobiologie an der Universität Bremen und leitet das Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung.

Die Meeresforscherin Antje Boetius lehrt als Professorin für Mikrobiologie an der Universität Bremen und leitet das Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung.
Bildquelle: Gesine Born

Viele gespannte Gesichter in einem großen Saal, darüber freue er sich nach langen Monaten pandemiebedingter Einschränkungen ganz besonders, betonte Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin, als er am vergangenen Dienstag zur 20. Einstein Lecture im Audimax des Henry-Ford-Baus begrüßte. Und er freue sich auf die Rednerin, die Meeresforscherin Antje Boetius: Professorin für Mikrobiologie an der Universität Bremen und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung.

Mit den „Einstein Lectures Dahlem“ würdigt die Freie Universität Berlin seit 2005 unter Beteiligung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen das epochale Wirken Albert Einsteins über nahezu zwei Jahrzehnte in Berlin als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Seit 2017 wird die Vortragsreihe am traditionellen Wissenschaftsstandort Berlin-Dahlem in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft ausgerichtet.

Antje Boetius war eigentlich schon 2020 eingeladen, diesen besonderen Gastvortrag zu halten. An eine Veranstaltung im vollen Saal war im ersten Pandemiejahr nicht zu denken, stattdessen wurde damals ein Gespräch über Wissenschaftskommunikation mit ihr, Günter M. Ziegler und dem Historiker Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, aufgezeichnet. Nun aber, sagte der Präsident, habe er endlich das Vergnügen, Antje Boetius auf die große Bühne zu bitten.

Als Kind träumte sie davon, Entdeckerin zu werden

Rund 500 Gäste sitzen mit Maske – geimpft, getestet oder genesen – im Audimax, dem Max-Kade-Auditorium, weitere 600 Interessierte haben sich für den Livestream angemeldet. Die Einführung und Vorstellung der Hauptrednerin übernimmt die Professorin Nicole Dubilier, Direktorin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen. Die Deutsch-Amerikanerin, selbst Meeresbiologin, kennt Antje Boetius schon viele Jahre und zeichnet in ihrer Einführung den Werdegang der weltweit bekannten Forscherin in Bildern und Anekdoten nach. Von Kindheit an sei diese vom maritimen Leben fasziniert gewesen; Großvater Eduard Boetius war als Kapitän zur See gefahren und hatte der Enkelin viel von seinen Reisen erzählt. Also las sie Abenteuerbücher und träumte davon, Entdeckerin der Ozeane zu werden.

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ Dieses Zitat von Albert Einstein hatte Antje Boetius als Motto ihrer Einstein Lecture gewählt.

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ Dieses Zitat von Albert Einstein hatte Antje Boetius als Motto ihrer Einstein Lecture gewählt.
Bildquelle: Gesine Born

Nach dem Abitur studierte Antje Boetius Meeresbiologie in Hamburg. Die Tiefsee lernte sie bei einem Studienaustausch an der berühmten „Scripps Institution of Oceanography“ in Kalifornien kennen. Ihre Dissertation schrieb sie 1996 über mikrobielle Stoffumsätze in der Tiefsee der Arktis an der Universität Bremen – betreut von Karin Lochte, der damaligen Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts für Polarforschung. Rund 20 Jahre und viele Forschungsabenteuer später trat sie in die Fußstapfen ihrer Doktormutter und wurde selbst Direktorin des Instituts. Antje Boetius leitet auch die Brückengruppe für Tiefsee-Ökologie und -Technologie des Alfred-Wegener-Instituts, des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie Bremen und der Universität Bremen.

„Ausfahrten sind ihr immer ganz wichtig“, berichtet Nicole Dubilier. Als Wissenschaftlerin und Fahrtleiterin habe sie schon viele Expeditionen begleitet. Wohl auch deswegen hatte Antje Boetius folgendes Einstein-Zitat als Motto ihres Vortrags gewählt: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ 45 Minuten lang nahm sie das Publikum mit auf eine Expedition in die geheimnisvolle Welt der Ozeane und Polarregionen.

Nicole Dubilier, Direktorin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremerhaven, stellte die Hauptrednerin vor.

Nicole Dubilier, Direktorin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremerhaven, stellte die Hauptrednerin vor.
Bildquelle: Gesine Born

„Der Ozean ist unser Life-Support-Geheimnis“, sagt die Meeresforscherin. Er nehme zum Beispiel 30 Prozent des CO2 aus der Atmosphäre auf, reguliere die Erdtemperatur und stelle 30 Prozent unserer Nahrung. Einzeller im Meer erzeugten mindestens so viel Sauerstoff wie Bäume und Gräser zusammen. „Es geht um 70 Prozent der Erdoberfläche – eigentlich ist es eine Frechheit, dass es so wenig Meeresforschung im Verhältnis zu anderer Forschung gibt“, befindet Antje Boetius. Schließlich bärgen die Ozeane immer noch gigantische Geheimnisse.

Schon als junge Wissenschaftlerin habe sie sich gefragt, wovon „die da unten“ eigentlich leben. Am Boden der Tiefsee wachsen keine Pflanzen, es ist dunkel und kalt, und es gibt kaum Energie. Dennoch wird vermutet, dass dort 10 Millionen unentdeckte Tierarten namenslos umherschwimmen, außerdem schätzungsweise eine Milliarde unbekannter Mikroben. Damals habe sie sich gedacht: Da will ich hin, denn nirgendwo im Universum gibt es so viel zu entdecken.

Gigantische Schwärze, dann ein Feuerwerk des Lebens

Aber wie kommt man auf den Grund der Tiefsee? Es gebe recht simple technische Lösungen, sagt Antje Boetius: „Man steigt in eine Kugel aus dickem Stahl und Glas und taucht hinunter.“ Inzwischen ergänzen auch Roboter den Blick in die Tiefsee, denn sie können unendlich lange am Kabel hängen, forschen, messen, Bilder sammeln „und klagen nicht“. „Dank moderner Kameras verstehen wir nun, dass fast alles Leben in der Tiefe sein eigenes Licht macht, um zu kommunizieren.“ Wer selbst mit einer Tauchkapsel in die Tiefsee abtauchen dürfe, verändere seine Perspektive dadurch ebenso wie Astronauten, die aus dem All auf die Erde blicken: „Man ist von gigantischer Schwärze umgeben. Und dann beginnt das Feuerwerk des Lebens.“

Mit den „Einstein Lectures Dahlem“ würdigen die Freie Universität Berlin und die Max-Planck-Gesellschaft das Wirken Albert Einsteins in Berlin-Dahlem. V.l.n.r.: Nicole Dubilier, Antje Boetius, Günter M. Ziegler

Mit den „Einstein Lectures Dahlem“ würdigen die Freie Universität Berlin und die Max-Planck-Gesellschaft das Wirken Albert Einsteins in Berlin-Dahlem. V.l.n.r.: Nicole Dubilier, Antje Boetius, Günter M. Ziegler
Bildquelle: Gesine Born

Fasziniert war die Forscherin schon früh von Einzellern: „In einem Teelöffel Schlamm vom Meeresboden finden wir eine Milliarde Zellen und Tausende Arten – eine Vielfalt von Lebensformen, die unter extremen Bedingungen entstanden ist.“ In einer renommierten wissenschaftlichen Veröffentlichung hat sie das Geheimnis gelüftet, wie Einzeller in einer Umgebung ohne Sauerstoff Methan abbauen, um daraus Energie zu gewinnen. „Dabei arbeiten zwei verschiedene Einzeller-Arten zusammen und nutzen das Meeressalz Sulfat. Sie finden überall auf der Welt genau den richtigen Partner und tauschen Elektronen untereinander aus. Gäbe es sie nicht im Meeresboden, wäre der Methangehalt in Wasser und Luft viel höher, und die Durchschnittstemperatur auf der Erde läge vielleicht bei 40 Grad Celsius.“

Antje Boetius‘ zweite Liebe gehört dem Leben in polaren Gewässern. In den Polarregionen wechseln sich nicht Tag und Nacht ab, sondern wenige Sommermonate voller Licht mit vielen Monaten Dunkelheit. Es habe sie schon immer beschäftigt, wie Pflanzen, die eigentlich auf Licht angewiesen sind, in dieser Umgebung überleben und wachsen können.

Die Meeresbiologin macht auch deutlich, wie gefährdet die Ökosysteme der Polarregionen heute sind: Im Zuge des menschengemachten Klimawandels steigen die Temperaturen im hohen Norden noch schneller als in anderen Teilen der Welt. Dass das Eis um den Nordpol im Sommer inzwischen stark abschmelze, wisse man aus Messungen – es auf einer Expedition aber mit eigenen Augen zu sehen, sei erschütternd: „Wir stehen davor, eines der physikalischen und biologischen Schlüsselelemente unseres Planeten zu verlieren.“

Das Meereis schwindet – mit negativen Folgen für das komplexe Ökosystem

Verloren ginge damit nämlich auch das Leben auf der Unterseite der polaren Eisschicht: Dort siedeln Algenteppiche, die auf den Meeresboden sinken, wenn ihr Substrat, das Eis, schmilzt. Sie spielen eine wichtige Rolle im Nahrungsnetz; wenn sie fehlen, hat das negative Folgen für viele Arten, zum Beispiel für Wale. „Die biologischen Folgen der Eisschmelze sind noch komplexer und schwieriger vorauszusehen als die physikalischen Auswirkungen auf unser Klima“, sagt Antje Boetius. Betroffen sind bekanntermaßen auch Eisbären und Walrosse, die auf Eisschollen angewiesen sind. „Wir können gar nicht so schnell forschen, wie das polare Leben verschwinden wird.“

Ziel der größten Expedition ihres Instituts war dann auch eine umfassende wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Nordpolarregion: Ein Jahr ist das deutsche Forschungsschiff Polarstern angedockt an eine riesige Eisscholle durch das Meereis in der Arktis gedriftet. Mehr als 80 Institutionen aus knapp 20 Ländern mit Hunderten Forschenden waren an der im September 2019 gestarteten Mosaic-Expedition beteiligt. „Wir haben uns große Mühe gegeben, direkt aus der Forschung heraus in die Wohnzimmer und auf die Handys der Menschen zu senden, damit Expedition als Methode für alle verfügbar und zugänglich ist“, sagt Antje Boetius. Im Live Blog schilderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Arbeit und ihren Alltag auf dem Forschungsschiff, ein Dokumentarfilm wurde in vielen Ländern im Fernsehen ausgestrahlt. Das Publikum der Einstein Lecture im Henry-Ford-Bau sah einen kurzen Zusammenschnitt von spektakulären, teils aber auch bedrückenden Bildern vom schwindenden Meereis.

„Nur, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, können wir verhindern, dass die Arktis bald eisfrei sein wird“, appellierte die Forscherin.

„Nur, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, können wir verhindern, dass die Arktis bald eisfrei sein wird“, appellierte die Forscherin.
Bildquelle: Gesine Born

„In wenigen Tagen beginnt die UN-Klimakonferenz in Glasgow“, sagt die Forscherin. „Wir wissen, welche Angebote zur Reduktion von Treibhausgasemissionen die Länder dort an den Tisch bringen werden. Und wir können ausrechnen, wie viel CO2 die Erde noch verträgt.“ Es fiele ihr manchmal schwer, die Diskrepanz zwischen diesen beiden Zahlen zu verdauen. Der Appell der Forscherin: „Nur, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, können wir verhindern, dass die Arktis bald eisfrei sein wird. Doch die aktuellen nationalen Ziele bringen uns in eine 3°C-Welt.“

Nach dem Vortrag beantwortet Antje Boetius Fragen aus dem Publikum. „Was können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tun, um von Politik und Gesellschaft gehört zu werden?“, lautet die letzte Frage. Anders als noch vor einigen Jahren werde heute schon viel getan, entgegnete die Meeresbiologin. Viele Kolleginnen und Kollegen würden ihr Wissen gern teilen. Die Leistung, forschungsbasiert zu übersetzen, zu kommunizieren und Fragen von Außenstehenden aufzugreifen, werde im Wissenschaftssystem aber noch nicht ausreichend honoriert. „Das müssen wir ändern“, sagt Antje Boetius, denn der Austausch mit der Gesellschaft, mit den Menschen, könne für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „unglaublich bereichernd“ sein. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Anerkennung für gute Wissenschaftskommunikation sei leider noch gering. Für die Einstein Lecture traf das allerdings nicht zu: Das Publikum honorierte den Vortrag mit großem Applaus.

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