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„Die Vorwürfe sind nachweisbar falsch, und sie sind ehrenrührig“

Ein Interview mit Universitätspräsident Günter M. Ziegler und Archäologin Susan Pollock zu den Anschuldigungen von Götz Aly in der Berliner Zeitung

22.06.2021

Universitätspräsident Professor Dr. Günter M. Ziegler

Universitätspräsident Professor Dr. Günter M. Ziegler
Bildquelle: David Ausserhofer

Die Freie Universität Berlin verwahrt sich gegen die Darstellung von Götz Aly in der Berliner Zeitung zum Umgang mit den sterblichen Überresten von Menschen auf dem Universitätscampus. Sie verwahrt sich insbesondere gegen die haltlose Unterstellung, einen eventuellen Zusammenhang mit Auschwitz-Opfern nicht aufklären zu wollen. Ein Interview mit Professorin Susan Pollock vom Institut für Vorderasiatische Archäologie, die die archäologischen Grabungen und Funde von Beginn an wissenschaftlich begleitet hat, und Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin.

Wie beurteilen Sie die Aussage innerhalb des Artikels, hinsichtlich der Herkunft der Knochen wiesen „alle bisherigen Indizien in Richtung Auschwitz“?

Susan Pollock: Dies kann ich nicht bestätigen. Im Gegenteil: Etliche Indizien deuten auf frühere Ursprünge.

Der Zeitpunkt, zu dem die Knochen vergraben wurden, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit in die NS-Zeit datiert werden – mit Ausnahme einer Grube, die wohl in Zusammenhang mit dem Anbau der Universitätsbibliothek zu sehen ist. Hier wurde nach unseren Erkenntnissen in den 1970er Jahren eine Grube mit Knochen gefunden, deren Reste nicht weit entfernt davon in eine neu ausgeschaufelte eingelassen wurden.

Prof. Dr. Susan Pollock

Prof. Dr. Susan Pollock
Bildquelle: Reinhard Bernbeck

Zunächst muss festgehalten werden, dass die osteologische Analyse der Knochen, die der Anthropologe Emmanuele Petiti und die Anthropologin Julia Gresky vom Deutschen Archäologischen Institut vorgenommen haben, auf mehrere verschiedene Herkunftsquellen hinweist. Darunter sind solche, die anzeigen, dass ein Teil der Knochen zum Zeitpunkt des Vergrabens schon länger in Sammlungen gewesen war. Klebstoffreste sind beispielsweise Indizien für Sammlungen, die schon im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) kuratiert wurden.

Durch Radiokarbonanalysen an zwei mit den sterblichen Überresten von Menschen gefundenen Tierknochen (einmal Rind, einmal Schaf oder Ziege) können diese in das 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung datiert werden, sie stammen daher höchstwahrscheinlich aus archäologischen Sammlungen. Es ist gut bekannt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des KWI-A, neben anderen der erste Direktor Eugen Fischer, archäologische Grabungen durchführten beziehungsweise Skelettteile von anderen Grabungen einkauften.

Andere Ergebnisse der Ausgrabungen von 2015 und 2016 belegen die Komplexität der Befunde. Viele Tierknochen stammen von Tierarten, die als Labortiere verwendet wurden. Dies betrifft der Archäozoologin Jana Eger zufolge vor allem Ratten und Kaninchen. Es sind Tierarten, die für Experimente gezüchtet wurden oder Pathologien aufweisen, die damit in Verbindung stehen, dass sie in Ställen gehalten wurden. Beide Tierarten wurden, wie bereits bekannt, von Forschern im KWI-A für Experimente verwendet. Auch die Gipsabformung eines Mannes kann zu einer Zeit ab 1917 datiert werden und damit sehr wahrscheinlich den Aktivitäten des KWI-A zugesprochen werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die menschlichen Knochen, die durch die Grabungen zu Tage gefördert wurden, samt der sie umgebenden Funde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem KWI-A stammen. Die Indizien verweisen aber auf vielfältige Herkunftskontexte, nicht auf einen einzigen Ort, weder Auschwitz noch einen anderen.

Wie häufig und unter welchen Umständen kam es zu Grabungen auf dem Gelände in der Ihnestraße?

Günter M. Ziegler: Nach dem Knochenfund 2014 und dem sehr problematischen Umgang mit den Knochen und assoziierten Objekten – deren Einäscherung durch die zuständigen Behörden veranlasst wurde – fand eine Reihe von Grabungen auf dem Gelände zwischen Ihne-, Harnack- und Garystraße statt. Diese waren anfangs baubegleitend: Alle durch Reparaturen, Garten- oder Bauarbeiten verursachten Bodeneingriffe wurden durch Archäologinnen und Archäologen begleitet.

Susan Pollock: Wenn archäologisch verdächtige Stellen vorgefunden wurden, wurden diese eingemessen und jeweils sorgfältig archäologisch ausgegraben. Alle Knochenfragmente, Objekte usw. wurden dabei natürlich geborgen und dokumentiert.

Wir sind zudem an das Präsidium der Freien Universität – damals unter der Leitung von Peter-André Alt – mit der Anfrage herangetreten, eine bestimmte Fläche aufzumachen, um offene Fragen weiter zu klären. Diese Anfrage wurde zügig und positiv beantwortet und führte zu einer Untersuchung der Stelle, an der die Knochen im Jahr 2014 aufgefunden worden waren. Aufgrund der Kenntnisse dieser Nachgrabung kam es zu der großen Maßnahme im Sommer 2016. Hierbei wurde der 2014 maschinell aufgemachte Graben, bei dem der ursprüngliche Knochenfund zutage gekommen war, gründlich archäologisch untersucht. Im Rahmen dieser Arbeit wurden zwei weitere Gruben gefunden, die erhebliche Mengen an Knochen enthielten, von Tieren wie von Menschen. Objekte wurden geborgen, etwa nummerierte Marken.

Wie stehen Sie zu der Frage weiterer Grabungen auf dem Gelände?

Günter M. Ziegler: Diese komplexe Frage diskutieren wir bedachtsam und sehr sorgfältig. Eine abschließende Antwort kann ich Ihnen noch nicht geben. Mein Vorgänger als Präsident, Peter-André Alt, hatte bereits 2015 eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, in der auch die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgeeinrichtung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, und das Landesdenkmalamt Berlin vertreten sind. Ich habe den Vorsitz der Arbeitsgruppe von ihm mit meinem Antritt als Präsident der Freien Universität im Juli 2018 übernommen. Auch Frau Pollock gehört dieser Gruppe an, die zuletzt Anfang dieses Monats getagt hat, und die seit ihrer Gründung das Verfahren zum Umgang mit den Funden auf dem Campus unserer Universität in zahlreichen Sitzungen und in enger Abstimmung mit allen Beteiligten begleitet.

Die Grabungen der Jahre 2015 und 2016 sowie die Analyse der geborgenen Knochenfragmente und Artefakte waren ausgesprochen wichtig und aufschlussreich. Auch wenn die Knochen keinen individuellen Opfern zugeordnet werden konnten, sagen sie uns doch viel über die Herkunft der Funde aus Sammlungen und Laboren des früheren Kaiser-Wilhelm-Instituts, aber auch über die Natur des Institutsgeländes und über die Fundgruben am Rand des Geländes.

Natürlich wird in der Arbeitsgruppe auch intensiv und offen über die Frage weiterer Grabungen diskutiert. Ganz wichtig sind für eine Entscheidung über den Umgang mit dem Gelände und mit möglichen weiteren Grabungen auch die Empfehlungen der Selbstorganisationen, die die Opfer des Kaiser-Wilhelm-Instituts und seiner Politik vertreten.

Die Frage nach weiteren Grabungen steht auch im Zusammenhang mit den aktuellen Überlegungen hinsichtlich der Bewertung und der Gestaltung des Geländes als Lern- und Gedenkort. Konkrete weitere archäologische Grabungen sind im Moment nicht in Planung – darüber werden wir aber auch weiter diskutieren. Ein Verbot oder ein „Unterbinden“ von wissenschaftlichen Untersuchungen dieser Art – wie es mir in dem Artikel von Götz Aly ja auch persönlich zugeschrieben wird – gab und gibt es nicht. Wer das behauptet, verbreitet Fake News; die Behauptungen werden nicht richtiger dadurch, dass sie wiederholt und verbreitet werden. Was aber auf jeden Fall feststeht, ist, dass wir künftige Bauarbeiten auf dem Gelände der Ihnestraße 22–24 selbstverständlich, wie bisher und wie vorgeschrieben, archäologisch begleiten lassen werden.

Sie haben die Zusammenarbeit mit den Organisationen erwähnt, können Sie Beispiele nennen?

Günter M. Ziegler: Im August 2020 haben wir dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die Ergebnisse der Untersuchungen und die aktuellen Überlegungen vorgestellt. Danach haben wir die breite Öffentlichkeit eingeladen: Im Zentrum stand da unsere große Informationsveranstaltung am 23. Februar dieses Jahres mit rund 280 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die aufgrund der Pandemie leider nur im Online-Format möglich war.

Die Veranstaltung hat zu einem sehr konstruktiven Austausch geführt – und zu weiteren sehr wertvollen und intensiven Gesprächen mit Selbstorganisationen und Opfervertretungen. Auch in diesem Kontext wurde die Frage nach weiteren Grabungen aufgegriffen. Wir haben festgehalten, dass hierzu zunächst weitere Gespräche erforderlich sind.

In dem Artikel von Götz Aly in der Berliner Zeitung vom 7. Juni heißt es, die Universitätsleitung mauere seit Jahren, Aufklärung werde verhindert und hemmungslos auf Zeit und Vergessen gespielt. Hat die Freie Universität etwas versäumt?

Günter M. Ziegler: Das ist ignorant, wenn nicht absichtlich falsch. Wenn der Autor, bevor er seinen Artikel zu Papier gebracht hat, sich besser informiert hätte, zum Beispiel indem er uns, so wie es die journalistische Sorgfaltspflicht verlangt, seine Fragen geschickt und um Beantwortung gebeten hätte, dann würden diese unhaltbaren Unterstellungen nicht erneut im Raum stehen.

Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben immer, wenn es Neuigkeiten gab, darüber in unserem Online-Magazin campus.leben informiert. Ebenso wurden regelmäßig Presseanfragen beantwortet. Die bereits erwähnte Informationsveranstaltung am 23. Februar war für eine möglichst große Öffentlichkeit angelegt: Zu der gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft und dem Landesdenkmalamt durchgeführten öffentlichen Presse- und Informationsveranstaltung hatten wir breit eingeladen, über deutsch- und englischsprachige Pressemitteilungen und Ankündigungen; wir hatten dies auch in den sozialen Medien kommuniziert und darüber hinaus auch Personen und Vertretungen zusätzlich auf die Online-Veranstaltung aufmerksam gemacht. Von den rund 350 Anmeldungen haben sich dann etwa 280 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem In- und Ausland beteiligt.

Ursprünglich war die Informationsveranstaltung für 2020 vorgesehen gewesen. Nachdem die sehr zeitaufwendigen Untersuchungen der Knochen abgeschlossen und die Gespräche innerhalb der Arbeitsgruppe mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma geführt worden waren, wollten wir die Öffentlichkeit zügig informieren. Das war uns wichtig – dann kam leider die Pandemie dazwischen.

Um es noch einmal zu sagen: Wir mauern nicht, wir verhindern keine Aufklärung, wir spielen nicht auf Zeit, und wir arbeiten nicht gegen das Vergessen: Die Vorwürfe in dem Artikel sind erkennbar und nachweisbar falsch und ehrenrührig.

Gibt es etwas, was Sie aus heutiger Sicht anders bewerten oder entscheiden würden?

Günter M. Ziegler: Ich denke, dass wir mit der Einrichtung der Arbeitsgruppe, die auf die Initiative von Peter-André Alt zurückgeht, eine sehr gute Entscheidung getroffen haben, um einen angemessenen und guten Umgang mit den Funden zu gewährleisten; dies gerade auch im Hinblick auf die damit einhergehende enge Abstimmung mit der Max-Planck-Gesellschaft und dem Landesdenkmalamt Berlin.

Auch die weitere Aufarbeitung und die auch öffentlich erörterten Fragen des Gedenkens, der Erinnerung aber auch der Information kommen gut voran. Allerdings werde ich in der Arbeitsgruppe auch im Hinblick auf weitere Untersuchungen und einige in unserer Arbeitsgruppe diskutierte Elemente der Erinnerung und Aufklärung anregen, dass wir prüfen, ob wir weitere Partner aus Land und Bund einbinden. Die Erinnerung an die Opfer der Verbrechen in der medizinischen Wissenschaft der NS-Zeit und davor, aber auch Fragen der Ethik in der Forschung heute und morgen: All dies sind Fragen und Themen, denen sich nicht nur die Freie Universität und ihre beiden Partner stellen können und wollen. Es handelt sich um Themenkomplexe von nationaler und internationaler Tragweite.

Herr Professor Ziegler, Sie werden in dem Artikel persönlich angegriffen. Was sagen Sie dazu?

Günter M. Ziegler: Auch wenn ich mir immer wieder sage, dass die Angriffe so unhaltbar und so weit weg von der Wahrheit sind, dass sie mich persönlich nicht wirklich treffen können, treffen mich die haltlosen Unterstellungen und der beleidigende Unterton doch zutiefst.

Auffällig ist, dass der Autor bereits 2015 meinen Amtsvorgänger Peter-André Alt mit ganz ähnlichen unhaltbaren Unterstellungen und Anwürfen in der Berliner Zeitung angegangen ist, woraufhin die Freie Universität Berlin umgehend eine Richtigstellung gegenüber dem Verlag erwirkt hatte. Da auch der jüngste Beitrag von Götz Aly abseitige Unterstellungen und die Hochschule diffamierende und verunglimpfende Darstellungen enthält und der Autor auch zahlreiche falsche Tatsachenbehauptungen aufstellt, haben wir uns gezwungen gesehen, erneut Redaktion und Verlag der Zeitung zu kontaktieren und juristisch gegen die Darstellung vorzugehen. Gern hätten wir uns diesen Schritt erspart.

Leider ist es so, dass trotz all dieser Schritte die Gefahr besteht, dass Alys Falschdarstellung für bare Münze genommen und von anderen ohne weitere Recherche reproduziert wird. Wer wirklich Interesse hat an meinem und unserem Umgang mit diesen bedrückenden, aber wichtigen Themen – den Überlegungen zur Geschichte, den Funden, den Grabungen, den Untersuchungsergebnissen, dem weiteren Umgang mit den Funden, der Gestaltung des Geländes, den Ideen für seine Zukunft als Gedenk- und Lernort – den lade ich herzlich zum Austausch ein. Natürlich bin ich gesprächsbereit. Aus dem Artikel von Herrn Aly kann ich ein solches Interesse leider nicht erkennen.