„Verlorenes Wissen wiedergewinnen“
21. und 22. November: erste Netzwerkkonferenz des Projekts „Academics in Solidarity“ (AiS) – Interview mit Florian Kohstall, Leiter Welcome Initiative und Begründer von AiS
18.11.2019
In dem Netzwerk „Academics in Solidarity“ haben sich derzeit 80 geflüchtete Forscherinnen und Forscher zusammengeschlossen. Das Projekt, durch das im Exil lebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützt werden, wird mit knapp 600.000 Euro für drei Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Angesiedelt ist es am Center for International Cooperation (CIC) der Freien Universität. „Academics in Solidarity" wurde von Florian Kohstall, Leiter Welcome Initiative der Freien Universität Berlin, mit Unterstützung der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) und der Freien Universität gegründet.
Herr Kohstall, am 21. und 22. November findet an der Freien Universität die erste Netzwerkkonferenz von „Academics in Solidarity“ statt, sie ist „Regaining Lost Knowledge – Connecting Research at Home and in Exile“ überschrieben. Was ist das Ziel der Konferenz?
Die Konferenz hat mehrere Ziele: Vor allem ist uns wichtig, dass unsere Mentees, also Forscherinnen und Forscher, die ihre Heimat aufgrund von Krieg, Gewalt oder massiv eingeschränkter akademischer Freiheit verlassen mussten, die Möglichkeit haben, ihre Forschung zu präsentieren und sich mit etablierten Kolleginnen und Kollegen zu vernetzen. Der Titel „Regaining Lost Knowledge“ ist bewusst gewählt, weil durch Flucht und Vertreibung auch wichtiges Wissen verlorengeht. Dieses Wissen hier bekannt zu machen, ist deshalb ganz zentral.
Darüber hinaus möchten wir diskutieren, wie wir Forscherinnen und Forschern in ihrem Exil eine langfristige Perspektive eröffnen können, die es ihnen ermöglicht, eines Tages diese spezielle Exilsituation zu überwinden. Das funktioniert ebenfalls, indem ihr spezieller Forschungsbeitrag und –anteil bekannt gemacht wird. Schließlich wollen wir darüber sprechen, wie wir die Forschung im Exil und in der Heimat besser verbinden können, deshalb wird eine Expertendiskussion zur Situation von geflüchteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den wichtigen Aufnahmeländern Libanon, Jordanien und der Türkei stattfinden.
An wen richtet sich die Konferenz?
Neben unseren Mentees richtet sich die Konferenz an alle Forscherinnen und Forscher, die sich vorstellen können, beispielsweise durch eine Mentoring-Partnerschaft, geflüchteten und gefährdeten Forschern bei ihrer Wiedereingliederung in den akademischen Arbeitsmarkt behilflich zu sein.
Academics in Solidarity ist ein deutschlandweites Projekt. Unser Anliegen ist es, die Personen, die sich bei uns melden, möglichst mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu vernetzen, die zu sehr ähnlichen Themen arbeiten. Im besten Fall kann daraus ein gemeinsamer Drittmittelantrag erwachsen, von dem beide Seiten profitieren: etwa in Form einer Stelle für den Mentee und eines neuen regionalen Forschungsschwerpunkts für den Mentor.
Hauptrednerin ist Professorin Azade Seyhan vom Bryn Mawr College (USA) – womit beschäftigt sich Frau Seyhan, worüber wird sie sprechen?
Die Literaturwissenschaftlerin Professorin Seyhan beschäftigt sich mit deutscher und türkischer Literatur. Sie forscht derzeit an der American Academy in Berlin zum Thema „Exile in Translation: The Exodus of German Culture to Turkey (1933-1945)“ („Exil in Übersetzung: Der Exodus deutscher Kultur in die Türkei von 1933 bis 1945“). Über Forschen im Exil wird sie – mit einem vergleichenden Ansatz – auch auf unserer Konferenz sprechen.
Für uns sind diese historischen Vergleiche sehr wichtig, da wir uns eingehend mit der Situation und den Rahmenbedingungen von Exilforschung beschäftigen müssen. Die Situation ist heute eine andere als während des Nationalsozialismus, als etwa Ernst Reuter und viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Türkei emigrierten oder als Hannah Arendt an der New School in New York unterrichtete. Trotz aller Schwierigkeiten konnten Ernst Reuter und Hannah Arendt auch im Exil Karriere machen. Ich will nicht sagen, dass es heute schwieriger oder unmöglich ist, dass Karrierewege in der Wissenschaft auf ähnliche Weise fortgesetzt werden. Aber vielleicht bedarf es auch unterstützender Weichenstellungen durch Institutionen, damit die heutigen Exilforscherinnen und –forscher eine ähnlich zentrale Rolle übernehmen können.
Aus welchen Gründen engagiert sich die Freie Universität bei „Academics in Solidarity“ und anderen Netzwerken mit ähnlichem Schwerpunkt („Scholars at Risk“)?
Als die Freie Universität 2011 „Scholars at Risk“ beigetreten ist, war sie die erste deutsche Universität in dem Netzwerk. Inzwischen forschen mehr als 20 Gastwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler mit einem sogenannten At-Risk-Status an der Freien Universität. Wir sind Partner der Academy in Exile. Das hat viel mit der Gründungsgeschichte der Freien Universität Berlin und ihrem Gründungsmotto „Iustitia, Veritas, Libertas“ zu tun. Das Thema akademische Freiheit wird an der Universität immer wieder und auch kontrovers diskutiert. Hinzu kommt, dass wir aufgrund unserer von jeher zahlreichen Verbindungen zu Universitäten im Ausland auch eine besondere „Antenne“ für Verstöße gegen die akademische Freiheit haben. Die Freie Universität engagiert sich deshalb bei der Unterstützung geflüchteter und gefährdeter Studierender und Forscherinnen und Forscher mit einer großen Selbstverständlichkeit.
Die Fragen stellte Christine Boldt
Weitere Informationen
Netzwerkkonferenz des Projekts „Academics in Solidarity“ (AiS) zum Thema „Regaining Lost Knowledge – Connecting Research at Home and in Exile“
Zeit, Ort und Anmeldung
- Öffentlicher Teil: Eröffnungsvortrag und die Paneldiskussion: 21. November, 10.00 bis 12.30 Uhr Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin, Garystraße 35 (Hörsaal A), 14195 Berlin, U-Bhf. Freie Universität/Thielplatz (U3)
- Anmeldung zur Konferenz: E-Mail: ais@fu-berlin.de