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West-östliches Dilemma

Die Anfänge der kritischen Koranforschung: Ihre Analyse birgt Lösungsansätze für die aktuelle Islam-Debatte

19.11.2010

Ein Streit bewegt das Land, mit einer Heftigkeit geführt, die manchen Beobachter staunen lässt. Gehört der Islam zu Deutschland, wie Bundespräsident Christian Wulff Anfang Oktober in seiner Rede zum Jahrestag der Deutschen Einheit formulierte? Und, falls ja, welche Rolle weist man hierzulande der islamischen Kultur zu? Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin, begrüßt die angestoßene Diskussion, auch wenn sie über manch eines der angeführten Argumente nur den Kopf schütteln möchte: „Der Islam ist längst Teil unseres europäischen Alltags geworden“, sagt die Koranforscherin, die im Oktober als „Mittlerin zwischen der arabischen und europäischen Kultur“ mit dem Wissenschaftspreis der Fritz-Behrens-Stiftung ausgezeichnet wurde. Er ist mit 30 000 Euro dotiert. Die Frage, ob man den Islam in die Werteordnung hierzulande integrieren könne, sei falsch gestellt, da die strikte Trennung zwischen einer jüdisch-christlichen Kultur und dem islamischen Weltbild historisch nicht haltbar sei. „Wer die Entstehung des Korans in seinem geschichtlichen Kontext betrachtet, erkennt, dass es sich um einen Text der Spätantike handelt, einer Epoche, die auch die theologischen Grundlagen der jüdischen und christlichen Religion prägte.“

Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern bemüht sich Angelika Neuwirth, die Perspektive der gegenwärtigen europäischen Koranforschung um eine historisch-kritische Dimension zu erweitern. Eine Initiative, die nicht neu ist. Die „Wissenschaft des Judentums“ – eine einflussreiche intellektuelle Strömung unter deutschsprachigen Juden – hatte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen, den Koran unter historischem Blickwinkel zu lesen. Die daraus hervorgegangene Forschungstradition war lange Zeit „verschüttet“, da ihre Vertreter durch das nationalsozialistische Regime aus den Universitäten vertrieben und ihre Ergebnisse vergessen wurden. Nun will Angelika Neuwirth gemeinsam mit ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dirk Hartwig die Verdienste der Vordenker in der Koranforschung in einem eigenen, durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt von neuem ans Licht bringen. „Die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts waren in Europa die ersten, die sich der Koranforschung zuwandten und den Text mit historisch-kritischen Methoden untersuchten“, erklärt Angelika Neuwirth. Zentren dieser Wissenschaftstradition waren die „Hochschule der Wissenschaft des Judentums“ in Berlin und das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, dessen offizieller Name Jüdisch-Theologisches Seminar Fraenckel'scher Stiftung lautete. Werke führender Gelehrter wie Ignaz Goldziher, der oft als Begründer der Islamwissenschaft angeführt wird, sind zwar als wegweisend bekannt. Doch dass die „Wissenschaft des Judentums“ die Basis für die historisch-kritische Korananalyse gelegt hat und damit am Anfang der europäischen Tradition der Koranforschung steht, wird in der Wissenschaftsgeschichte kaum registriert. Ganze Generationen jüdischer Gelehrter, die sich im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Koran und dem Islam befassten, sind heute nahezu unbekannt. Etwa Abraham Geiger: Der aus Frankfurt am Main stammende Rabbiner, der als einer der Begründer der „Wissenschaft des Judentums“ gilt, führte mit seiner 1833 veröffentlichten Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ die historisch-kritische Methode in die Koranforschung ein. „Sein Ansatz, die Eigenart der aus der Bibel bekannten Geschichten im Koran, die von den biblischen abweichen, aus spätantiken jüdischen Traditionen zu erklären, war bis zur gewaltsamen Beendigung dieser Forschungsrichtung durch den Nazi-Terror für die Koranforschung maßgeblich“, erklärt Arabistin Neuwirth. Auch das von ihr geleitete Forschungsprojekt „Corpus Coranicum“ folgt dem von Geiger eingeführten Prinzip der historischen Koranlektüre. Im Rahmen des an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Vorhabens arbeiten Wissenschaftler seit drei Jahren an einer Dokumentation des Korantextes in seiner handschriftlichen und mündlichen Überlieferung und an einem umfassenden Kommentar, der den Text im Rahmen seines historischen Entstehungskontextes verständlich macht.

Entscheidend für die Koranforschung von heute erscheint Angelika Neuwirth die Tatsache, dass der Koran (entstanden zwischen 610 und 632 n. Chr.) mehr als 20 Jahre lang mündlich verkündet wurde. Eine Verkündigung, die sich noch nicht an Muslime gewandt habe – sie seien ja erst durch die Belehrung zu solchen geworden –, sondern an „spätantik gebildete“ Hörer. Infolgedessen sei die Entstehung des Korans und damit des Islams auch nicht durch die späteren islamischen Kommentare erklärbar, sondern der heilige Text müsse in den Rahmen vorislamischer Traditionen gestellt werden, argumentiert Angelika Neuwirth: „Dieser Perspektivwechsel vom islamischen zum spätantiken Koran hat für uns aber auch einen politisch hochrelevanten Effekt, denn er macht auch diese heilige Schrift als europäisches Vermächtnis erkennbar.“

Die Orientwissenschaftlerin weiß, dass viele, vor allem muslimische Koranforscher der Verortung des Korantextes in die Spätantike überaus kritisch gegenüberstehen. Denn aus innerislamischer Sicht entstand mit der Offenbarung des Korans etwas absolut Neues. Die Vorgeschichte des Islam gilt hingegen als „Zeit der Unwissenheit“. Eine anscheinend unüberwindbare Kluft – und doch hat Angelika Neuwirth auf ihre Ideen an verschiedenen arabischen, türkischen und iranischen Universitäten auch positive Reaktionen geerntet. Die Wissenschaftlerin hofft nun, westliche und nahöstliche Ansätze wieder zusammenzuführen. Denn die in 1300-jähriger Tradition angesammelte Kompetenz der muslimischen Forscher müsse selbstverständlich auch in die kritische Koranforschung im Westen einfließen, betont die Wissenschaftlerin: „Ein wichtiger Schritt zur Integration dieses Wissenskanons in unseren Forschungshorizont ist die vom Wissenschaftsrat ausgesprochene Empfehlung, Institute für Islamische Theologie einzurichten.“ In Zukunft, so hofft Angelika Neuwirth, werden westliche und nahöstliche Forscher aufeinander zuarbeiten. Dies könnte einen neuen Anstoß dazu geben, Thesen zur ausschließlich jüdisch-christlichen Tradition Europas zu überdenken und zu einer offeneren, verständnisvolleren Sicht zu gelangen.