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Rückfällig oder nicht?

Neue Standards für die Kriminalpsychologie

Von Matthias Thiele

Wenn Klaus-Peter Dahle einen neuen Fall ins Haus bekommt, stapeln sich in seinem kleinen Büro in der Dahlemer Villa des Instituts für Forensische Psychatrie die Akten schon mal bis zu einem Meter hoch: Der Privatdozent forscht für die Arbeitsgruppe Kriminalpsychologie der Charité, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von Freier Universität und Humboldt-Universität. Als Gutachter erstellt er Rückfallprognosen für Strafgefangene. Immer wenn ein verurteilter Gewaltverbrecher mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden soll, muss der Verurteilte von einem Psychologen oder Psychiater begutachtet werden. Und dann heißt es erstmal: Akten lesen.

Wie die Sachverständigen dabei vorzugehen haben, das war bis in die 90er Jahre hinein jedem weitgehend selbst überlassen. Mittlerweile stellen die Gerichte höhere Ansprüche. Deshalb erprobt die Arbeitsgruppe jetzt vermehrt standardisierte Verfahren. „Es gab zum Thema Rückfallprognosen lange keine validierten Prognosemethoden. Bis in die 90er Jahre waren viele Gutachten deshalb fachlich indiskutabel“, sagt Dahle.

Die deutsche Rechtsprechung verlangt von den Gutachtern viel: Während in den USA vor allen Dingen Rückfallprognosen auf statistischer Grundlage gestellt werden, fordern deutsche Obergerichte individuelle Gutachten. „Diese Methoden sind sehr aufwendig, denn die Biographie und individuellen Merkmale des Strafgefangenen müssen mit in die Beurteilung einfließen.“ Idiographische Beurteilung heißt das im Fachjargon.

Klaus-Peter Dahle und seine Forscherkollegen haben jetzt Verfahren entwickelt, um die statistische Analyse mit der idiographischen Beurteilung zu kombinieren. Dazu wurden mehr als 600 männliche Straftäter, darunter 221 mit besonders gravierenden Anlassdelikten – also schweren Gewalt- und Sexualverbrechen – in mehreren Studien untersucht.

„Bei einigen Tätern lässt sich die Rückfallprognose schon anhand der statistischen Instrumente relativ sicher bestimmen.“ Problematisch seien die Vorhersagen für diejenigen, die bei allen Faktoren irgendwo in der Mitte der Statistik auftauchen: Die Gefahr, dass sie rückfällig werden, ist aus mathematischer Sicht genauso wahrscheinlich wie die Wahrscheinlichkeit für die Gesamtgruppe – wahrlich kein großer Erkenntnisgewinn. Gleichzeitig bilden diese „unspezifischen“ Straftäter die größte Gruppe.

„Ganz besonders vage ist eine Rückfallprognose für gravierende Rückfallereignisse“, sagt Dahle. Bei besonders schweren Straftaten besteht nur eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent, dass der Täter erneut eine ähnlich schwere Straftat begeht. „Mit statistischen Methoden bekommen sie aber bei der Hälfte der Fälle eine Falschprognose. Wenn sie die Rückfallprognose für einen Mörder erstellen müssen, ist das eine fatale Quote.“

Trotzdem bilden Statistiken eine wichtige Grundlage für die Prognose: Gehört der Täter einer Hochrisikogruppe an? Gab es zur Tatzeit altersabhängige Risikofaktoren? Wie hoch ist die Basisrückfallrate bei Fällen mit gleichem Anlassdelikt? Empirisches Zahlenmaterial allein genügt jedoch nicht, das haben die Untersuchungen der AG Kriminalpsychologie bestätigt: „Die idiographischen Prognosen waren den standardisierten, statistischen Prognosen durchgängig überlegen – vor allem bei Sexualstraftätern.“

Deshalb werden bei der von der Charité entwickelten Methode die individuellen Merkmale der Täter stärker berücksichtigt. In vier Schritten wird so eine idiographische Prognose erstellt. Dafür trifft sich der Gutachter zu Gesprächen mit dem Gefangenen. „Wir schauen uns die Biographie des Täters an, analysieren die Anlasstat sehr genau und betrachten die Entwicklung wichtiger Verhaltensmuster seit der letzten Tat: Wie reagiert er unter Stress? Wie hat sich seine Persönlichkeit entwickelt?“ Und auch das Entlassungsumfeld wird analysiert. „Daraus allein lässt sich keine Wahrscheinlichkeitsaussage erstellen“, sagt Dahle, „aber wenn wir die idiographische Methode mit der Statistik kombinieren, erhalten wir zuverlässige Ergebnisse. Das hat unsere Studie gezeigt.“

Bald könnte das Berliner Verfahren zum Standard in der deutschen Justiz werden. „Der Bundesgerichtshof hat angedeutet, dass er Mindestanforderungen an Gutachten stellen wird, sobald ein entsprechender Fall in einem Revisionsverfahren entschieden werden muss“, sagt Dahle.