Die Revolution ist tot - es lebe die Revolution
Wissenschaftler, Aktivisten und Politiker diskutieren über die politische Zukunft Ägyptens.
16.10.2012
Sie reckten die Fäuste gen Himmel, schwenkten Fahnen und traten ein für ein demokratisches Ägypten: Kaum anderthalb Jahre ist es her, dass sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo viele Tausend Menschen zu Demonstrationen versammelten, um das Regime Husni Mubaraks nach 30 Jahren zum Rücktritt zu bewegen. Seitdem die Aufmerksamkeit der Medien nachgelassen hat, verblassen auch die Bilder des Arabischen Frühlings in den Köpfen vieler. Und spätestens seit der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum Präsidenten gilt die Revolution als tot. Unter den jungen Protestlern hat sich Ernüchterung breit gemacht: „Sie haben sich natürlich nicht gewünscht, dass nun im Prinzip das Militär mit den Muslimbrüdern regiert“, sagt Professorin Cilja Harders vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
„Dennoch glauben die Menschen daran, dass die Revolution weitergeht“, berichtet ihr amerikanischer Kollege Paul Amar. „Eine neue Revolution oder eine Gegenrevolution ist möglich, weil es die jungen Menschen als Aufgabe ihrer Generation begreifen, das System umzukrempeln.“
Die Politikwissenschaftler – Harders an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients der Freien Universität und Amar an der University of California in Santa Barbara – wollen mit der Tagung „Revolution Reborn?“ in Berlin eine Debatte über die politische Zukunft des revolutionären Aufbruchs von 2011 anstoßen. Partner ist die ebenfalls an der Freien Universität angesiedelte Graduiertenschule Muslim Cultures and Societies. Dort forschte Paul Amar im Frühjahr 2012 über die Reformen des Sicherheitssektors und die Geschlechterverhältnisse im postrevolutionären Ägypten. „Das Land wird noch immer stark von den Studenten-, Gewerkschafts- und Frauenbewegungen geprägt“, sagt er, „auch die Muslimbruderschaft verändert sich schnell, seitdem sie regiert.“
Mit Cilja Harders verbindet ihn das starke Interesse für das politische Bewusstsein von Bürgern und damit für die Basis politischer Bewegungen. „Wir haben vor allem gesellschaftlich benachteiligte Gruppen im Blick – Frauen, Jugendliche, Menschen in ärmeren Gebieten“, sagt Harders. Immer wieder reisen sie und Amar nach Kairo, um die Situation vor Ort zu erleben: „Ägypten ist eine der politischsten Gesellschaften überhaupt“, sagt Amar, „die Menschen sprechen und scherzen seit der Revolution den ganzen Tag über Politik.“
Diese neue Politisierung und Mobilisierung sehen die Wissenschaftler als zentral für die weitere Entwicklung in Ägypten, da auch die Muslimbrüder und das Militär sich den Forderungen kaum auf Dauer entziehen könnten. Im Ausland erfahre man durch die Berichterstattung in den Medien nur von einzelnen Facetten des tatsächlichen Geschehens: Zuletzt prägten die Wahlen und die Rolle der Muslimbruderschaft das Bild.
Deren Politik bleibe umstritten, auch wenn der neue Präsident zu Beginn seiner Amtszeit einige Änderungen veranlasst habe, mit denen die ägyptische Bevölkerung anscheinend zufrieden sei, sagt Amar. „Seitdem das Militär entmachtet ist, steht wieder das Land selbst im Mittelpunkt – gleichzeitig deckt sich Mursis Politik bislang voll und ganz mit den Vorstellungen der USA für die Region.“ Ob Mursi diesen Kurs halten und wie er sich zukünftig gegenüber dem Iran und Syrien positionieren werde, sei noch völlig offen.
Die Berliner Tagung soll Aspekte in den Mittelpunkt rücken, die in hiesigen Medien und im wissenschaftlichen Diskurs bisher nicht oder wenig beachtet wurden. Dazu zählen beispielsweise die wirtschaftliche Situation Ägyptens und die Verfassungsdebatte. „Das Militär kontrolliert noch immer fast die Hälfte der ägyptischen Wirtschaft“, sagt Paul Amar, „es ist nach wie vor sehr mächtig.“ Auch den Einfluss Saudi-Arabiens sehen die beiden Wissenschaftler kritisch: Der Staat sei nicht nur ein wichtiger Exporteur von Öl, sondern habe zuletzt auch große Summen in ägyptische Infrastruktur investiert – unter anderem in Krankenhäuser, Fernsehsender und Telekommunikationsunternehmen. Zudem versuche der ägyptische Präsident derzeit eindringlich, westliche Investoren anzulocken.
Zur Tagung am 26. Oktober sind Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens aus der arabischen Welt, den Vereinigten Staaten und Europa geladen. Mit Hamdeen Sabbahi ist ein Oppositionspolitiker Ägyptens zu Gast, der kürzlich eine neue Bewegung ins Leben gerufen hat und einen „dritten Weg“ zwischen Islamismus und Militärdiktatur propagiert. „Wir möchten verschiedene Generationen und Disziplinen verbinden“, sagt Cilja Harders.
So könnten etwa hiesige Bewegungen wie Occupy von ägyptischen Aktivisten und deren Erfahrungen profitieren und umgekehrt. Auch Paul Amar wird anlässlich der Podiumsdiskussion, mit der die Tagung schließt (siehe Kasten), von seiner Sicht auf Ägypten berichten. „Angesichts der Krisen in Europa und im Mittleren Osten ist es wichtig, dass die Debatten in Berlin weitergehen – hier, wo die wichtigen politischen Entscheidungen fallen.“