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Regieren nach Zahlen

Politikwissenschaftler Philipp Lepenies untersucht die Rolle, die statistische Indikatoren in der modernen Politik spielen

21.04.2017

„Die Zufriedenheit der Bürger hängt oft nicht mehr nur mit dem Wachstum oder dem Pro-Kopf-Einkommen zusammen“, sagt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies und kritisiert eine Überbewertung des BIP.

„Die Zufriedenheit der Bürger hängt oft nicht mehr nur mit dem Wachstum oder dem Pro-Kopf-Einkommen zusammen“, sagt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies und kritisiert eine Überbewertung des BIP.
Bildquelle: Immanuel Giel via Wikimedia Commons, CC0

Philipp Lepenies ist Gastprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Philipp Lepenies ist Gastprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Privat

Wenn Politiker wichtige politische, gesellschaftliche und ökonomische Transformationsprozesse anstoßen wollen, stützen sie sich immer häufiger auf statistisch messbare Werte. Die im Herbst 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG), die eine Reduzierung der extremen Armut bis 2030 vorsehen, seien dafür das vielleicht prominenteste Beispiel, sagt Philipp Lepenies vom Otto-Suhr-Institut. Nicht weniger als ein weltweiter Veränderungsprozess hin zu nachhaltiger Entwicklung soll dem Politikwissenschaftler zufolge durch diese Ziele erreicht werden.

„Indikatoren wird heutzutage eine einmalige und wichtige instrumentelle Rolle zugeschrieben“, sagt Lepenies, der derzeit das Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin leitet. „Der renommierte amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz hat das folgendermaßen ausgedrückt: Was wir messen, bestimmt unser Verhalten. Und wenn wir falsch messen, handeln wir falsch.“ Seit einigen Jahren schon gibt es in mehreren OECD-Staaten Bemühungen, Regierungen durch die Etablierung sogenannter alternativer Wohlfahrtsindikatoren dazu zu bewegen, sich weniger um Wirtschaftswachstum und stärker um die Erhöhung der Lebensqualität und der Zufriedenheit der Bürger zu kümmern.

Die große Bedeutung des BIP

Auch hier spielen statistische Indikatoren eine entscheidende Rolle. Der Grund für die Suche nach alternativen Indikatoren ist die weltweit dominierende Bedeutung eines speziellen Indikators: des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und seiner Veränderungsrate, dem Wirtschaftswachstum. Obwohl das BIP eigentlich nur den Wert der Produktion von Gütern und Dienstleistungen misst, habe es sich seit seiner Erfindung während des Zweiten Weltkriegs schnell zu einem Indikator gewandelt, der vermeintlich noch ganz andere Dinge abbildet, sagt Philipp Lepenies: die Wohlfahrt einer Gesellschaft, geopolitische Macht und den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung.

BIP allein reicht nicht

Die vergangenen Jahre allerdings hätten deutlich gezeigt, dass das BIP eben nicht geeignet sei, um Aussagen darüber zu treffen, wie gut es den Menschen in einem Land geht. „Die Zufriedenheit der Bürger hängt oft nicht mehr nur mit dem Wachstum oder dem Pro-Kopf-Einkommen zusammen“, sagt der Politikwissenschaftler. Außerdem würden die Umweltfolgen des Wachstums durch das BIP nicht eingerechnet, sodass Konsum- und Produktionsweisen als erfolgreich gelten, die alles andere als nachhaltig seien – sondern eher zum Klimawandel beitrügen.

Diese Fehler des BIP seien zwar schon lange bekannt, sagt Lepenies. Es sei aber auf der einen Seite besonders der Einfluss der sogenannten Glücksforschung und Verhaltensökonomie auf die Politik, die Regierungen davon überzeugt hätten, über alternative Messindikatoren nachzudenken und Parametern wie dem „Guten Leben“ verstärkte Bedeutung beizumessen. Auf der anderen Seite sei man gerade, weil man sich der mächtigen Position und der Dominanz des BIP bewusst sei, davon überzeugt, dass man Regierungshandeln durch alternative statistische Indikatoren verändern könne, sagt Lepenies: „Man glaubt an ein Regieren nach Zahlen.“

Demokratische Prozesse stärken

In vielen Ländern würden nun die Bürger gebeten, selbst zu artikulieren, was ihnen im Leben wichtig ist und wie dies gemessen werden soll, sagt Lepenies. Der OECD, die als treibende Kraft hinter vielen dieser nationalen Initiativen stehe, gehe es um eine notwendige Neudefinition des westlichen Fortschrittsverständnisses. Denn das auf Industrialisierung und Wirtschaftswachstum ausgerichtete System hätte vor dem Hintergrund großer Herausforderungen wie dem Klimawandel und dem sich verschlechternden sozialen Zusammenhalt in vielen Ländern der Welt keine Zukunft mehr. Außerdem, so die OECD, definierten Indikatoren nicht nur transparente Ziele, sondern durch quantifizierbare Ziele könnten Bürger ihre Regierungen besser bewerten. Demokratische Prozesse könnten so gestärkt werden.

Historisch einmalig: die Diskussion um das BIP

Philipp Lepenies, Professor für vergleichende Politikwissenschaft, sieht sich diese unterschiedlichen Länderinitiativen genauer an. Dabei geht es nicht nur um die Indikatoren selbst, die im jeweiligen Kontext vorgeschlagen werden oder um deren methodische Stärken und Schwächen, sondern auch um die Prozesse der Indikatorenauswahl und die Analyse wichtiger Institutionen, Akteure und nationaler Debatten über das, was den Menschen wichtig ist.

Diese Initiativen seien erst am Anfang, betont Lepenies. Man dürfe gespannt sein, welche Effekte sich in den unterschiedlichen Ländern zeigen werden. Ob die alternativen Indikatoren die Macht des BIP brechen und Regierungshandeln verändern könnten? „Dass überall auf der Welt von Regierungsseite über Alternativen zum BIP nachgedacht wird, ist in seiner historischen Dimension einmalig“, betont Lepenies. „Aber man muss auch sehen, dass die Beharrungskraft des Wachstumsdogmas in der Politik noch sehr, sehr groß ist.“

Eine Untersuchung der nationalen Initiativen alternativer Wohlfahrtsmessung schließt daher auch die Analyse politischer Konflikte und Kontroversen mit ein, die sich in diesen Initiativen entladen können – beispielsweise die auch in Deutschland heftig geführten Debatten über die „richtige“ Messung von Armut und Ungleichheit. In jedem Fall stecken Lepenies zufolge hinter alternativen Wohlfahrtsindikatoren elementar wichtige normative Entscheidungen über das, was ein gutes Leben und Lebensqualität ausmachen.

Wie lässt sich „Gutes Leben“ messen?

Für die Politikwissenschaft wünscht sich Lepenies die systematische Analyse der Rolle, die statistische Indikatoren in der Politik spielen. Dazu gehöre fundiertes technisches Verständnis von Messmethoden und Indikatoren. Aber Indikatoren seien soziale und politische Konstrukte, die in bestimmte Kontexte eingebunden sind. Sie definierten, wie sozioökonomische und politische Phänomene wahrgenommen und eingeschätzt würden. Und – wie Joseph Stiglitz sagt – bestimmen Indikatoren auch das menschliche Verhalten. Je mehr sich die Sozialwissenschaften an quantitativen Methoden orientieren, desto wichtiger ist es Lepenies zufolge, dass auch darüber geforscht und gelehrt wird, wie mit Indikatoren Politik gemacht wird und wie sehr Indikatoren selbst das Ergebnis politischer Prozesse sind. Schließlich solle über die Indikatoren nichts Geringeres als eine Wandlung zu nachhaltiger Entwicklung und hin zu einem „Guten Leben“ erreicht werden.

Weitere Informationen

Philip Lepenies Studie zur politischen Geschichte des Bruttoinlandsprodukts (Die Macht der einen Zahl, Suhrkamp 2013) ist in englischer Übersetzung bei Columbia University Press erschienen. Eine chinesische Übersetzung folgt.

Prof. Dr. Philipp Lepenies
Direktor des Forschungszentrums für Umweltpolitik FFU (interim) und Gastprofessor für vergleichende Politikwissenschaft
Tel.: +49 30 838 566 87, E-Mail: compol-ffu-sekr@polsoz.fu-berlin.de