Bei Fluchtversuchen über die Ostsee und an den Grenzen von Ostblockstaaten starben 212 Personen
Ergebnisse von Untersuchungen der Universität Potsdam, der Universität Greifswald und des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin vorgestellt
Nr. 271/2023 vom 16.11.2023
Bei Fluchtversuchen von DDR-Bürgerinnen und Bürgern über die Ostsee sowie bei Überquerungen der Ostblockgrenzen sind neuen Untersuchungen zufolge 212 Männer, Frauen und Kinder ums Leben gekommen. Dabei handelt es sich um 135 Todesfälle in der Ostsee und um 77 Fälle an den Grenzen von Ostblockstaaten. Die meisten Todesfälle bei Fluchtversuchen aus der DDR ereigneten sich demnach in der Ostsee im Jahr 1962, als 25 Personen starben, und bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten im Jahr 1989, bei denen 18 Personen ihr Leben verloren, davon sieben im Oktober, also wenige Wochen vor dem Fall der Mauer. Die Ergebnisse wurden am Donnerstag durch das Forschungskonsortium „Eiserner Vorhang“ in Berlin vorgestellt; beteiligt daran waren der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin sowie die Universitäten Greifswald und Potsdam. Das Forschungskonsortium schloss damit eine Forschungslücke: Die Ergebnisse ergänzen die vom Forschungsverbund bereits veröffentlichten Untersuchungen zur Zahl der Todesfälle an der innerdeutschen Grenze (1949–1989) und die vorliegenden Untersuchungen zur Berliner Sektorengrenze und Mauer. Die Recherchen des Teams der Freien Universität Berlin zu den Grenzzwischenfällen am Eisernen Vorhang erfolgten in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Die meisten der ermittelten Betroffenen hatten vor ihrem Fluchtversuch erfolglos Ausreiseanträge aus der DDR gestellt gehabt. Im Potsdamer Teilprojekt wurden fast 9.000 Ausreiseanträge ausgewertet und der Umgang von DDR-Institutionen mit den Antragstellern analysiert. Die Resultate der drei Teilprojekte wurden nun im Rahmen der Abschlusskonferenz des Forschungsverbunds SED-Staat präsentiert.
Zu Todesfällen von DDR-Flüchtlingen an den Grenzen von Ostblockstaaten kam es den Ergebnissen zufolge vor allem in den Jahren 1970 bis 1978, in denen 17 Menschen starben. Die mit 16 Personen meisten DDR-Flüchtlinge fanden an den bulgarischen Grenzen den Tod. An den Grenzen der früheren Tschechoslowakei starben 12 Personen, an den Grenzen Ungarns 6 Personen und an der Grenze zwischen Rumänien und dem früheren Jugoslawien 3 Personen.
Die Forschungsergebnisse zu den Todesfällen von DDR-Bürgern an den Grenzen von Ostblockstaaten beruhen auf einer internationalen Kooperation des Teams der Freien Universität mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Bulgarien, Österreich, Rumänien, Serbien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen. Dadurch konnten die Schicksale von Opfern am Eisernen Vorhang in einer länderübergreifenden Darstellung erforscht werden. Doch nicht nur DDR-Flüchtlinge starben an den Grenzen der ehemaligen Ostblockstaaten, auch Westdeutsche wurden erschossen oder erlitten tödliche Stromschläge an Grenzzäunen.
Zwischen November 2018 und Oktober 2023 untersuchten Forschungsteams des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, der Universität Greifswald und der Universität Potsdam Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten und über die Ostsee sowie den amtlichen Umgang von DDR-Institutionen mit Ausreisewillige. Die Untersuchung des Teilprojekts der Universität Potsdam basiert auf der empirischen Auswertung von fast 9.000 Ausreisanträgen aus Thüringen und Brandenburg sowie den einschlägigen Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsministeriums. Dabei wurde festgestellt, dass nur ein geringer Prozentsatz der Ausreiseantragsteller strafrechtlich belangt und inhaftiert worden sind.
Finanziert wurde das Forschungskonsortium der drei Universitäten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung:
- Teilprojekt 1: Todesfälle bei Fluchtversuchen von DDR-Bürgern über die Grenze von Ostblockstaaten – Forschungsverbund SED-Staat, Freie Universität Berlin
- Teilprojekt 3: Das DDR-Justizministerium und die Rechtsbeugung gegen Ausreisewillige und Flüchtlinge – Universität Potsdam
- Unterprojekt: Zeitzeugen-Interviews und Online-Handbuch – Team von Creative Media and Technology in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
- Teilprojekt 2: Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee – Universität Greifswald
Die drei Forschungsgruppen legen Ende des Jahres folgende Studien mit ihren Untersuchungsergebnissen vor:
- Henning Hochstein, Jenny Linek, Merete Peetz: Tödliche Ostseefluchten aus der DDR (1961-1989). Ein biografisches Handbuch.
- Jochen Staadt (Hg.) unter Mitarbeit von Jan Kostka und Hannes Puchta: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948–1989. Ein biografisches Handbuch. mitteldeutscher verlag Halle (Saale).
- Manfred Görtemaker: Republikflucht und Ausreisen. Justiz und Politik in der DDR.
Die Online-Version der beiden biografischen Handbücher ist mit den Biographien der Todesopfer schon länger zugänglich https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/ .Das Interview-Archiv „Eiserner Vorhang“ ist seit Februar 2023 online https://archiv.eiserner-vorhang.de/de?checked_ohd_session=true.
Der 1992 vom Präsidium der Freien Universität Berlin gegründete Forschungsverbund beendet Ende des Jahres 2023 mit dem Abschluss des Projekts „Grenzregime“ seine Tätigkeit.
(Hinweis: In einer früheren Version lautete der erste Satz: "Bei Fluchtversuchen von DDR-Bürgerinnen und Bürgern über die Ostsee und über die Grenzen von Ostblockstaaten sind neuen Untersuchungen zufolge 212 Männer, Frauen und Kinder ums Leben gekommen." Mit der neuen Formulierung des ersten Satzes ("Bei Fluchtversuchen von DDR-Bürgerinnen und Bürgern über die Ostsee sowie bei Überquerungen der Ostblockgrenzen sind neuen Untersuchungen zufolge 212 Männer, Frauen und Kinder ums Leben gekommen.") soll klargestellt werden, dass es Todesopfer an den Grenzen der Ostblockstaaten auch vor der Gründung der DDR gab und dass es sich in einigen dokumentierten Fällen auch um Grenzbewohner handelt, beispielsweise aus Bayern. Aus diesem Grund ist auch die Überschrift in "Personen" geändert worden; in der früheren Überschrift war von DDR-Bürgern die Rede.)
Weitere Informationen
Zusammenfassung der vorliegenden Forschungsergebnisse zu Todesfällen von deutschen Staatsbürgern an der innerdeutschen Grenze, an der innerstädtischen Grenze in Berlin und bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten und über die Ostsee.
Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen 429
Suizide vor Zwangsaussiedlung 6
Todesfälle bei Kontrollen 97
Todesfälle vor bzw. nach Festnahme 34
Todesfälle ohne Fluchtabsicht 92
Todesfälle von DDR-Grenzsoldaten 236
Todesfälle von westdeutschen Grenzbeamten 6
Suizide von DDR-Grenzern in dienstlichem Kontext. 43
Detaillierte Aufschlüsselung siehe unten.
Quellen:
- Hans Hermann Hertle, Maria Nooke: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biographisches Handbuch, Berlin 2019.
- Gerhard Sälter, Johanna Dietrich, Fabian Kuhn: Die vergessenen Toten. Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948–1961), Berlin 2016.
- Klaus Schroeder, Jochen Staadt: Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989, Berlin 2018.
- Das biografische Online-Handbuch „Eisernen Vorhang“: https://www.eiserner-vorhang.de/
- Im Dezember 2023 erscheinen:
- Henning Hochstein, Jenny Linek, Merete Peetz: Tödliche Ostseefluchten aus der DDR
(1961-1989). Ein biografisches Handbuch.
- Jochen Staadt (Hg.) unter Mitarbeit von Jan Kostka und Hannes Puchta: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948-1989. Ein biografisches Handbuch. mitteldeutscher verlag Halle (Saale).
Erfasste Todesfälle deutscher Staatsbürger
am Eisernen Vorhang 1948–1989, davon
1) bei Fluchtversuchen insgesamt 429
Berliner Sektorengrenze/Mauer 103
Innerdeutsche Grenze 133
Ostsee 135
Ostblockstaaten 58
2) bei Kontrollen insgesamt 97
Berliner Grenze bis 1961 33
Innerdeutsche Grenze 55
Ostblockstaaten 9
3) vor bzw. nach Festnahmen insgesamt 36
Berlin 4
Innerdeutsche Grenze 22
Ostblockstaaten 10
4) Todesfälle ohne Fluchtabsicht 67
Berliner Sektorengrenze/Mauer 3
Innerdeutsche Grenze 57
Ostblockstaaten 7
5) Suizide innerdeutsche Grenze 48
Suizide vor Zwangsaussiedlung 6
Suizide im dienstlichen Kontext 42
6) Todesfälle von DDR-Grenzsoldaten 236
Erschossen in Berlin 8
Erschossen an der innerdeutsche Grenze 24
Unfälle DDR-Grenzer innerdt. Grenze 88
Schusswaffenunfälle von DDR-Grenzern
an der innerdeutsche Grenze 111
Minenunfälle von DDR-Grenzsoldaten 5
7) Todesfälle von West-Grenzbeamten 6
Erfasste Todesfälle insgesamt 919
Todesfälle als Verdachtsfälle eingestuft
Berliner Sektorengrenze/Mauer 2
Innerdeutsche Grenze 11
Ostsee 118
Ostblockstaaten 3
Verdachtsfälle insgesamt 134
Infolge des vorzeitigen Projektendes der Untersuchung über die Zwischenfälle an den Grenzen der ehemaligen Ostblockstaaten bleiben 41 Verdachtsfälle ungeklärt.
Kontakt
- Dr. Jochen Staadt, Freie Universität Berlin, Forschungsverbund SED-Staat, Tel.: 020/838-55562, E-Mail: j.staadt@fu-berlin.de