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Provenienzforschung zur Herkunft von „Human Remains“ am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin

Initiative an der Freien Universität Berlin identifiziert möglichen kolonialen Unrechtskontext menschlicher Überreste

Nr. 006/2023 vom 17.01.2023

Lange Zeit wurden an Universitäten menschliche Überreste in der Lehre verwendet. Auch an der Freien Universität Berlin sind solche Human Remains in der Zoologischen Lehrsammlung vorhanden, wobei deren Herkunft nicht ausreichend bekannt ist. Auf Initiative des Lehrpersonals der Humanbiologie wurde am Institut für Biologie des Fachbereichs Biologie, Chemie, Pharmazie der Hochschule ein eigenes Provenienzforschungsprojekt angestoßen. In der Lehre werden seitdem menschliche Überreste nicht mehr eingesetzt, solange ethische Fragen und Fragen zur Herkunft der Präparate ungeklärt sind. Im Zuge der Recherchen stellte sich heraus, dass zwei aufgefundene menschliche Gebeine sehr wahrscheinlich aus einem kolonialen Unrechtskontext stammen, namentlich der sogenannten Luschan-Sammlung. Diese wurden im Juli 2022 an das zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehörende Museum für Vor- und Frühgeschichte übergeben, wo zu der Provenienz menschlicher Gebeine aus der Luschan-Sammlung geforscht wird. Am 17. Januar 2023 wurde das Provenienzforschungsprojekt am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Masterstudentin und Humanbiologietutorin Vanessa Hava Schulmann hatte im November 2021 angefangen, mit Unterstützung des Lehrpersonals der Humanbiologie, darunter Dr. Vladimir Bajić, Prof. Dr. Katja Nowick, Dr. Alexander Lieven, Dr. Vladimir Jovanović, und Anne Hartleib, die Herkunft der menschlichen Überreste in der zoologischen Lehrsammlung am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin zu untersuchen. Dabei dokumentierte sie rund 20 menschliche Schädel sowie weitere menschliche Überreste wie Kieferknochen, Zähne, Oberschenkelknochen, Unterschenkelknochen, Fußknochen, Handknochen, mehrere fast vollständig erhaltene menschliche Skelette sowie weitere humananatomische Präparate. Bei einigen Human Remains war aufgrund von Dokumentation und Erscheinungsbild ein Unrechtskontext nicht auszuschließen. Um diesem Verdacht nachzugehen und weitere Hinweise über die Herkunft der menschlichen Überreste in Erfahrung zu bringen, zog das Provenienzteam unter anderem die Expertise des Provenienzforschers und Anatomieprofessors Andreas Winkelmann von der Medizinischen Hochschule Brandenburg heran. Nach einer ersten Einschätzung des Experten könnten einige der menschlichen Gebeine aus dem ehemaligen Anatomieinstitut der Freien Universität stammen. Die Untersuchung dieser Möglichkeit ist noch fortlaufend. Ganz unproblematisch sind menschliche Überreste aus medizinischen Kontexten jedoch nicht, denn auch bei medizinischen Körperspenden gibt es ethische Bedenken bezüglich historischer Umsetzung von informierter Einwilligung. Dies gilt es zu diskutieren.

Zudem verwies Prof. Dr. Andreas Winkelmann von der Medizinischen Hochschule Brandenburg bei zwei menschlichen Gebeinen, einem Oberarmknochen und einem Unterkieferknochen, auf die Möglichkeit, dass diese aus der sogenannten Luschan-Sammlung stammen könnten und somit einen kolonialen Unrechtskontext hätten. Die auch „S-Sammlung“ genannte Sammlung war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von dem Mediziner und Anthropologen Felix von Luschan für das frühere „Königliche Museum für Völkerkunde“ zusammengetragen und 1925 auf mehrere Berliner Universitäten verteilt worden. Ein großer Teil der Sammlung kam aus den deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifikraum und wurde einst für menschenverachtende Rassenforschung genutzt. Ursprünglich umfasste diese Sammlung etwa 6.300 Schädel. Davon sind nach Angaben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz heute noch knapp 5.500 in Berlin vorhanden.

Die Zugehörigkeit zur Luschan-Sammlung konnte für die beiden am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin aufgefundenen menschlichen Überreste bestätigt werden, weswegen sie mittlerweile an das zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehörenden Museum für Vor- und Frühgeschichte übergeben worden sind. Hier soll künftig auch die Provenienz der transferierten menschlichen Überreste aus der Zoologischen Lehrsammlung weiter ermittelt werden.

Der Präsident der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, dankte allen Beteiligten der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Provenienz der Bestände menschlicher Überreste im Institut für Biologie für ihr Engagement. Ihnen sei ein behutsamer, sehr verantwortungsvoller und transparenter Umgang mit dem sensiblen Thema gelungen. Neben dem Lehrpersonal des Instituts der Biologie der Freien Universität Berlin hätten auch Beschäftigte von Museen sowie Angehörige von Institutionen wie dem Verein Decolonize Berlin e. V, der sich mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus auseinandersetzt, einen wichtigen Beitrag bei der Untersuchung der Zoologischen Sammlung geleistet. Diese Kooperation sei sehr wertvoll.

Am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin fand am 17. Januar eine öffentliche Diskussionsveranstaltung statt, um über das Projekt zu informieren und sich über die Befunde auszutauschen. Dort sprachen auch die Ethnologin und Provenienzforscherin Isabelle Reimann von der Humboldt-Universität Berlin sowie Mnyaka Sururu Mboro, Menschenrechtsaktivist und Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation „Berlin Postkolonial“ sowie Gründungsvorstand von „Decolonize Berlin“ – beide Vereine engagieren sich für eine Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus.

Das Provenienzforschungsteam des Instituts für Biologie der Freien Universität Berlin hat zudem die Website www.bcp.fu-berlin.de/biologie/provenance/index.html mit Fragen und Antworten zu dem Projekt veröffentlicht. Damit soll eine größtmögliche Transparenz geschaffen werden.

Die Biologiestudentin Vanessa Hava Schulmann hofft, mit dem Projekt einen Diskurs über wissenschaftliche und soziale Verantwortung in Forschung und Lehre anzustoßen. „Auch wir Biolog*innen, welche mit menschlichen Überresten arbeiten oder an ihnen lernen, tragen eine soziale und ethische Verantwortung“, sagt sie. Besonders in der Biologie sei der damit verbundene kritische Dialog oft nicht so selbstverständlich wie in verwandten Disziplinen, zum Beispiel der Anthropologie und Archäologie. Auch fachübergreifend sei in zahlreichen Sammlungen von Universitäten, Instituten, Schulen, Einrichtungen und Museen die Herkunft menschlicher Überreste oft nicht ausreichend geklärt.

Die Biologiestudentin appelliert zudem an die Verantwortlichen in der Wissenschaftspolitik, mehr Geld für Provenienzforschung zur Verfügung zu stellen, um die Finanzierung weiterer Projekte zu sichern. Nötig sei eine langfristig gesicherte Finanzierung von Provenienzforschung.

 

Weitere Informationen

Kontakt

Freie Universität Berlin, Institut für Biologie, Königin-Luise-Straße 1-3, 14195 Berlin

E-Mail: provenance@biologie.fu-berlin.de 

 

Weitere Informationen

Website Provenienzforschungsprojekt www.bcp.fu-berlin.de/biologie/provenance/index.html