Entwicklung der Körperhöhe im Übergang vom Jäger und Sammler zum sesshaften Menschen
Publizierte Knochenmaße von 6000 prähistorischen Skeletten im Zusammenhang analysiert
Nr. 230/2019 vom 30.07.2019
Ein Forschungsteam der Prähistorischen Archäologie und Statistik um Eva Rosenstock, Leiterin der an der Freien Universität Berlin angesiedelten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „LiVES“, hat die Entwicklung der menschlichen Körperhöhe in Europa im Übergang zur sesshaften Lebensweise rekonstruiert. Für die Studie unterzog das Team publizierte Knochenmaße von mehr als 6000 vorgeschichtlichen Skeletten einer gepoolten Reanalyse. Die auf etablierten Schätzmethoden von Körperhöhen und einem neuartigen Ansatz basierenden Modelle zeigen nach Angabe der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass der Übergang vom Jagen und Sammeln zu Pflanzenbau und Viehhaltung zwischen circa 9000 und 3000 v. Chr. nicht wie früher vermutet generell zu geringeren Körperhöhen führte. Außerdem habe sich gezeigt, dass sich das noch heute bestehende Gefälle zwischen tendenziell hochgewachsenen Menschen in Nordeuropa und zierlichen Menschen in der Mittelmeerregion etwa von 3000 v. Chr. an herausbildete.
Die Forscherinnen und Forscher hatten drei methodische Probleme zu bewältigen: Erstens mussten sie die Größe der Skelette und damit die ehemalige Statur der Toten möglichst korrekt aus den dokumentierten Arm- und Beinknochenlängen schätzen. Zweitens mussten sie Unsicherheiten wie die oft breiten Datierungsspannen oder vagen Angaben zum Geschlecht der Skelette berücksichtigen, und drittens sind die verfügbaren Individualdaten – was für archäologische Funde generell gilt – sehr ungleichmäßig in Raum und Zeit verteilt. Da es nicht eine allein richtige Schätzmethode für die Körperhöhe gebe, verglichen die Forscherinnen und Forscher Varianten zweier ursprünglich für forensische Zwecke entwickelten Regressionsgleichungen: Die von Karl Pearson wurden 1899 an Lyoner Anatomieleichen erstellt, und die von Christopher Ruff und Koautoren (2012) basiert auf einer Sammlung moderner amerikanischer Skelette sowie vorgeschichtlichen westeuropäischen Skelettfunden. Für die beiden anderen Probleme wurde ein Bayes’sches Messfehlermodell herangezogen. Indem Unsicherheiten und Lücken in den Daten durch gewichtete zeitlich und räumlich benachbarte Daten geschlossen wurden, konnten erstmals lückenlose Karten und Kurven der Körperhöhenentwicklung zwischen circa 10.000 und 1000 v.Chr. erstellt werden.
Modelle auf Basis beider Methoden sowie reiner Arm- und Beinknochenlängen hätten vergleichbare Ergebnisse und Trends ergeben, was sowohl die Gültigkeit beider Schätzmethoden als auch die Eignung des Bayes’schen Messfehleralgorithmus’ unterstreiche, sagt Projektgruppenleiterin Eva Rosenstock. Am Beginn des Holozäns – unserem gegenwärtigen Erdzeitalter, das vor etwa 12.000 Jahren begann – hätten mit etwa 168 Zentimeter großen Männern und circa 163 Zentimeter großen Frauen relativ großgewachsene osteuropäische Populationen kleinen westeuropäischen gegenübergestanden, bei denen Männer etwa 163 Zentimeter maßen und Frauen 155 Zentimeter. Während der folgenden Jahrtausende, die vor allem vom Übergang von der jagenden und sammelnden Lebensweise zu Pflanzenbau und Viehhaltung geprägt waren, habe sich ein komplexes Bild gezeigt, das nach Ansicht von Eva Rosenstock auf zwei Faktoren zurückgehen könnte: erstens auf die Wanderung von Populationen und damit ihrer die maximale Körperhöhe vorgebenden Gene und zweitens auf die Nahrungsversorgung, die das Wachstum beeinflusst.
„Gegen die lang herrschende wissenschaftliche Ansicht, sinkende Körperhöhen während der Zeit der Sesshaftwerdung würden auf chronische Mangelernährung hinweisen, sprechen stabile Körperhöhen in der Zeit der langsamen Nutzbarmachung von heimischen Getreiden, Hülsenfrüchten und Nutztieren im Vorderen Orient in der Zeit ab 10.000 v. Chr.“, erläutert Eva Rosenstock. „Stabile Körperhöhen zeigten sich auch in Mitteleuropa, wohin sich die neue sesshafte Lebensweise um 5500 v. Chr. ausbreitete. Mit dem Ende der Stein- und Kupferzeit im vierten Jahrtausend v. Chr. jedoch stiegen die Körperhöhen im gesamten Untersuchungsgebiet an, was mit landwirtschaftlichen Neuerungen wie dem Pflug zu tun haben könnte.“ Besonders deutlich sei dies in Nordwesteuropa, wo die Menschen nun im Mittel 167 Zentimeter (Männer) und 160 Zentimeter (Frauen) groß waren. „In der Zusammenschau mit Daten von der Antike bis heute können wir annehmen, dass sich der Größenunterschied in der Tendenz seit etwa 3000 v. Chr. gehalten hat und daher wahrscheinlich genetische Ursachen hat“, sagt die Prähistorikerin.
Weitere Informationen
Publikation
Human Stature in the Near East and Europe ca. 10 000 – 1000 BC: its spatio-temporal development in a Bayesian errors-in-variables model. Autoren: Eva Rosenstock, Julia Ebert, Robert Martin, Andreas Hicketier, Paul Walter, Marcus GroßAnthropological and Archaeological Sciences, online first July 2019, https://doi.org/10.1007/s12520-019-00850-3
Kontakt
Dr. Eva Rosenstock, Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin und Einstein Center Chronoi, Projektleiterin der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Lebensbedingungen und biologischer Lebensstandard in der Vorgeschichte“, Telefon : 030 838-57424, E-Mail: e.rosenstock@fu-berlin.de