Studie: Einführung eines Sozialversicherungsfreibetrags könnte Gering- und Mittelverdiener entlasten
Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftler Benjamin Fischer, Robin Jessen und Viktor Steiner von der Freien Universität Berlin
Nr. 247/2017 vom 22.09.2017
Wissenschaftler der Freien Universität haben einen Vorschlag zur Entlastung von Personen mit geringem oder mittlerem Einkommen über einen Sozialversicherungsfreibetrag vorgelegt. Wie Benjamin Fischer, Robin Jessen und Prof. Dr. Viktor Steiner berechneten, könnte die Einführung eines Sozialversicherungsfreibeitrags von 350 Euro monatlich bei gleichzeitiger Abschaffung von sogenannten Mini- und Midijobs mithilfe einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sowie mit leichten Steuererhöhungen finanziert werden. Denkbar wäre den Wissenschaftlern zufolge auch eine Gegenfinanzierung über eine Reduktion von Transferzuverdienstmöglichkeiten.
Angesichts anhaltend hoher Staatseinnahmen und vor der anstehenden Bundestagswahl versprechen die Parteien, deren Einzug in den Bundestag wahrscheinlich ist, Entlastungen für Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen. „Die Parteien konzentrieren sich dabei auf Reformen der Einkommensteuer, die für Geringverdiener aber kaum relevant ist“, konstatiert Robin Jessen. Diese Gruppe werde vor allem durch vergleichsweise hohe Sozialversicherungsbeiträge belastet. Eine Entlastung für Geringverdiener sei hier analog zum Einkommensteuerfreibetrag durch einen Sozialversicherungsfreibetrag möglich. Die Idee wurde im vergangen Jahr vom stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel ins Spiel gebracht, aber wegen vermeintlich zu hoher Kosten wieder verworfen. Der Grund für die hohen Kosten im SPD-Vorschlag war den Wissenschaftlern zufolge, dass ein Sozialversicherungsfreibetrag in Höhe des Einkommensteuerfreibetrags erwogen wurde, der für Ledige im Jahr 2017 bei 8820 Euro liegt. Im Gegensatz dazu haben die Wissenschaftler zwei Vorschläge für Sozialversicherungsfreibeträge in Höhe von monatlich 350 Euro berechnet. Während mehrere Parteien Steuerentlastungen für geringe und/oder mittlere Einkommen ankündigen, hat die SPD als einzige im Bundestag vertretene Partei einen ausformulierten Vorschlag vorgelegt. „Um die intendierte Entlastung von Geringverdienern zu veranschaulichen, haben wir unsere Vorschläge einem Teil der Reformvorschläge des SPD-Bundestagswahlprogramms gegenübergestellt“, erläutert Professor Viktor Steiner.
In beiden Reformvorschlägen der Wissenschaftler sollen Sozialversicherungsfreibeträge Minijobs und die sogenannte Gleitzone, also Midijobs ersetzen. Bei einem Minijob darf das Arbeitsentgelt bis zu 450 Euro betragen, bei einem Midijob höchstens 850 Euro. Gemäß den Konzepten der Wissenschaftler sollen Freibeträge unabhängig von der Einkommenshöhe gewährt werden. Damit profitiere zum Beispiel auch eine Angestellte mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 1500 Euro vom Freibetrag, während im Status quo jedes Einkommen über der Gleitzone, also ab einer Höhe von mehr als 850 Euro monatlich, mit dem vollen Sozialversicherungssatz belastet werde, erläutert Benjamin Fischer. Die beiden Vorschläge der Wissenschaftler unterscheiden sich voneinander in der Gegenfinanzierung. Die erste Reformoption (SV-Freibetrag I) verringert die Zuverdienstmöglichkeiten für Empfänger von Arbeitslosengeld II, während die zweite (SV-Freibetrag II) Steuererhöhungen vorsieht. Nach beiden Vorschlägen verschiebt sich zusätzlich die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung nach oben, sodass in der Folge Besserverdiener höhere Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Beide Reformvorschläge führen den Berechnungen zufolge zu Mehrausgaben von je rund zehn Milliarden Euro. Entlastungsvolumen dieser Höhe würden in der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion häufig in Hinblick auf zukünftige Steuerreformen genannt und entsprächen auch den fiskalischen Kosten des SPD-Vorschlags, konstatiert Benjamin Fischer. Dieser sehe Entlastungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen für Monatseinkommen zwischen 450 und 1300 Euro vor; erreicht werde dies durch eine Ausweitung der Gleitzone. Außerdem seien im SPD-Vorschlag Steuersenkungen für mittlere Einkommen und Steuererhöhungen für höhere Einkommen angelegt.
Die Wissenschaftler simulierten die Auswirkungen der beiden eigenen Vorschläge und den der SPD mit dem Mikrosimulationsmodell STSM und einer repräsentativen Stichprobe deutscher Haushalte (Sozioökonomisches Panel). Dabei wurden mögliche Verhaltensanpassungen der Haushalte, etwa eine Reduzierung von Wochenarbeitsstunden, nicht berücksichtigt. Die Simulationen zeigen nach Einschätzungen der Wissenschaftler, dass Freibeträge für Sozialversicherungsbeiträge eine effektive Möglichkeit seien, niedrige und mittlere Einkommen zu entlasten. Die stärkste Entlastung ergibt sich den Berechnungen zufolge bei den bei den mittleren Einkommen. Bei der Variante mit einer Gegenfinanzierung durch eine Steuererhöhung wird das oberste Einkommensdezil relativ stark belastet. Bei dieser Reformalternative erhöht sich das Einkommen der unteren 90 Prozent der Einkommensverteilung. Beide Alternativen wären mit einer geringen Abnahme der Einkommensungleichheit verbunden, gemessen durch den sogenannten Gini-Koeffizienten, einem Maß für Einkommensungleichheit. Hingegen werden den Angaben der Wissenschaftler zufolge im SPD-Vorschlag durch die Ausweitung der Gleitzone für Sozialversicherungsbeiträge niedrige und mittlere Einkommen nur geringfügig entlastet, während höhere Einkommen durch Steuersenkungen relativ stark entlastet werden. Dadurch würde die Einkommensungleichheit leicht zunehmen.
Details und Tabellen
Tabelle 2 (siehe weiter unten) listet die Veränderungen des Steuer- und Transfersystems durch die beiden Vorschläge der Wissenschaftler SV-Freibetrag I und II sowie den SPD-Vorschlag auf. Abbildung 1 zeigt beispielhaft, was sich finanziell für einen erwerbsfähigen Alleinstehenden ohne Kinder durch die Reformoptionen ändert. Auf der horizontalen Achse ist das monatliche Arbeitseinkommen aufgeführt. Die vier Linien zeigen das sich daraus ergebende monatlich verfügbare Nettoeinkommen, also das Bruttoeinkommen abzüglich Steuern und Sozialversicherungsbeträge und zuzüglich von Transfers, in diesem Fall Arbeitslosengeld II. Die schwarze Linie zeigt den Status quo. Ist die dargestellte Person arbeitslos, erhält sie in diesem Beispiel rund 820 Euro Arbeitslosengeld II pro Monat. Bis zu einem Arbeitseinkommen von etwa 1550 Euro bezieht sie aufstockendes Arbeitslosengeld II. Ein zusätzlich verdienter Euro Arbeitseinkommen führt dann nur zu einem geringen Zuwachs an verfügbarem Einkommen. Bei etwa 1550 Euro monatlichem Arbeitseinkommen hat die Person keinen Transferanspruch mehr, ein zusätzlich erarbeiteter Euro führt zu einem deutlicheren Anstieg des verfügbaren Einkommens. Im Transferbereich sehen der SPD-Vorschlag und der Vorschlag SV-Freibetrag II keine Änderung vor. Vorschlag SV-Freibetrag I führt hingegen zu einer Schlechterstellung von sogenannten Aufstockern, denn in diesem Szenario wird erhöht sich das verfügbare Einkommen für jeden hinzuverdienten Euro um nur 10 Cent. Nach derzeit geltenden Regeln darf ein Aufstocker hingegen meist 20 Cent von jedem hinzuverdienten Euro behalten.
Abbildung 1: Verfügbares Einkommen eines Alleinstehenden mit einem monatlichen Arbeitseinkommen bis 4000 Euro
Bei höheren Arbeitseinkommen zeigen sich Unterschiede zwischen allen Vorschlägen. Der Sozialversicherungsfreibetrag stellt den Haushalt ab einem Arbeitseinkommen von etwa 1500 Euro besser als nach der derzeitigen Gesetzeslage. Bei einem Arbeitseinkommen von 1600 Euro ist das monatlich verfügbares Einkommen des Haushalts um etwa 60 Euro höher als im Status quo. Die Steuersenkungen des SPD-Vorschlags zeigen erst bei höheren Einkommen Wirkung. Erst bei einem Arbeitseinkommen von etwa 4000 Euro stellt sich der Haushalt durch alle drei Reformvorschläge gleich. Sein Nettoeinkommen beträgt hier jeweils etwa 2460 Euro gegenüber 2400 im Status quo. Abbildung 2 zeigt die Budgetbeschränkung für denselben Haushalt, aber mit einem höheren Arbeitseinkommen von 4000 bis 8000 Euro monatlich. Erst in diesem Bereich stellen die Steuererleichterungen nach dem SPD-Vorschlag den Haushalt besser als die beiden SV-Freibetrags-Vorschläge. Ab einem Arbeitseinkommen von etwa 8000 Euro entspricht das Nettoeinkommen nach dem SPD-Vorschlag wieder dem der derzeitigen Gesetzeslage.
Ab einem monatlichen Arbeitseinkommen von rund 5000 Euro stellen sich Besserverdiener wegen der Verschiebung der Beitragsbemessungsgrenze durch die SV-Freibetrags-Reformen schlechter als nach der derzeitigen Gesetzeslage: Die Steuererhöhungen nach SV-Freibetrag II führen den Berechnungen zufolge zu einer weiteren Schlechterstellung bei hohen Arbeitseinkommen. Bei einem monatlichen Bruttoeinkommen von 8000 Euro liegt das Nettoeinkommen hier bei rund 4370 Euro gegenüber 4440 Euro nach SV-Freibetrag I sowie 4500 Euro nach dem SPD-Vorschlag und der derzeitigen Gesetzeslage.
Abbildung 2: Verfügbares Einkommen eines Alleinstehenden mit einem monatlichen Arbeitseinkommen ab 4000 Euro
„Bei der Umsetzung der Reformalternativen wäre zu berücksichtigen, dass Entlastungen bei Sozialversicherungsbeiträgen im aktuellen System mit niedrigeren zukünftigen Ansprüchen insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung einhergehen“, betont Robin Jessen. „Dem könnte mit Subventionierung der Sozialversicherungsansprüche durch andere Haushaltsmittel entgegengewirkt werden.“ Die Differenz zwischen den durch einen bestimmten Arbeitnehmer im Status quo und den in einem Reformszenario eingezahlten Sozialversicherungsbeiträgen könne aus Steuermitteln bezahlt werden, sodass die Rentenansprüche unverändert blieben. Diese Subvention wurde von den Wissenschaftlern in der Berechnung der Kosten der Reformen in den Simulationen berücksichtigt. „Eine Subvention der Sozialversicherungen durch andere Haushaltsmittel findet im Status quo bereits statt“, erklärt Viktor Steiner.
Verteilungswirkungen
Tabelle 1 zeigt die Verteilungswirkungen der drei Reformvorschläge. Sie stellt die durchschnittlichen monatlichen Nettoäquivalenzeinkommen sowie die durchschnittliche absolute und relative Veränderung des monatlichen Nettoäquivalenzeinkommens im Vergleich zum Status quo nach Einkommensdezilen dar. Da Verteilungsanalysen den Haushaltszusammenhang (Familienstand, Anzahl und Alter der Kinder) berücksichtigen, wurden hierfür die individuellen Einkommen der Haushaltsmitglieder zusammengefasst und die Pro-Kopf-Einkommen entsprechend einer sogenannten Äquivalenzskala angepasst. Die Wissenschaftler verwendeten hier die von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erarbeitete Skala. Dadurch kann das Einkommen beispielsweise eines Alleinstehenden mit dem eines Paares sinnvoll verglichen werden, das durch die gemeinsame Nutzung von Wohnung und Auto bei gleichem Pro-Kopf-Einkommen einen höheren Lebensstandard genießt.
Beide wissenschaftlichen Vorschläge erhöhen den Berechnungen zufolge die Durchschnittseinkommen in allen Dezilen der Einkommensverteilung mit Ausnahme des obersten Dezils bei SV-Freibetrag II und im zweiten Dezil bei SV-Freibetrag I, wo der Effekt der geringeren Zuverdienstmöglichkeiten den des Sozialversicherungsfreibetrags dominiert. Im ersten Dezil befinden sich hingegen relativ viele Haushalte mit geringem Einkommen, die wegen der Vermögensprüfung dennoch keine Transfers beziehen, sodass der Effekt der Einführung des Sozialversicherungsfreibetrags überwiegen würde. „Vergleicht man die beiden Reformvorschläge untereinander, profitieren die unteren 80 Prozent der Einkommen von SV-Freibetrag II stärker als von SV-Freibetrag I“, erläutert Benjamin Fischer. Dafür erlitten die oberen 10 Prozent durch SV-Freibetrag II einen monatlichen Einkommensverlust von durchschnittlich rund 70 Euro pro Monat. „Im Vergleich findet beim SPD-Vorschlag kaum Umverteilung statt, er stellt im Durchschnitt alle Einkommensdezile besser“, analysiert Robin Jessen. Vor allem profitierten Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung; Haushalte in der unteren Hälfte erhielten einen Einkommenszuwachs von durchschnittlich lediglich bis zu 5 Euro monatlich. Die geringe Entlastung für Niedrig- und Mittelverdiener resultiert aus der schwachen Wirkung der Ausweitung der Gleitzone im Vergleich zum Sozialversicherungsfreibetrag.
Tabelle 1: Simulierte monatliche Einkommensveränderungen durch Reformvorschläge in Euro (prozentuale Veränderung in Klammern) nach Einkommensdezilen (mit OECD-Äquivalenzskala angepasst)
Die letzte Zeile der Tabelle zeigt die Veränderung im sogenannten Gini-Index für Einkommensungleichheit. Die stärkere Umverteilung durch SV-Freibetrag II reduziert die Einkommensungleichheit um 0.005 Gini-Punkte, SV-Freibetrag I würde die Ungleichheit nicht verändern, während der SPD-Vorschlag die Einkommensungleichheit sogar leicht verstärken würde. Allerdings ist für die Simulation nicht das gesamte SPD-Wahlprogramm berücksichtigt worden, das ebenfalls dort vorgeschlagene Familiensplitting etwa könnte die Ungleichheit reduzieren.
Tabelle 2: Aktuelles System und Veränderungen in Reformszenarien
Weitere Informationen
Robin Jessen, Fachbereich Wirtschaftswisssenschaft der Freien Universität Berlin, Telefon 030 / 838-55229, E-Mail: robinjessen@zedat.fu-berlin.de