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Bakterien benutzen Nanospritzen

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin, des Max-Planck-Instituts für molekulare Physiologie Dortmund und der Universität Freiburg untersuchten, wie Bakterien ihre Wirtszellen töten

Nr. 286/2014 vom 08.08.2014

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin haben zusammen mit Kollegen vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund und der Universität Freiburg den bisher unbekannten Mechanismus entdeckt, mit dem Bakterien ihre Wirtszellen töten. Sie konnten erstmals zeigen, dass die Mikroorganismen dazu einen Giftstoffkomplex einsetzen, der wie eine Injektionsspritze funktioniert. Die neuen Erkenntnisse könnten auch in der Humanmedizin Anwendung finden und wurden im renommierten Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht.

Das Team um Prof. Dr. Stefan Raunser untersuchte die Giftwirkung von Bakterien der Gattung Photorhabdus luminiscens, die als Symbionten im Darm von millimetergroßen Fadenwürmern leben. Diese Würmer befallen im Boden lebende Insektenlarven und infizieren sie mit den Bakterien, die dann mit einem Giftcocktail die Larven töten.

Der von den Mikroorganismen abgegebene tödliche Giftstoff gehört zur Gruppe der ABC-Toxine und besteht aus drei Komponenten: den Proteinen TcA, TcB, TcC. Die Forscher untersuchten das Bakteriengift mithilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie und der Röntgenkristallographie und fanden heraus, dass die Bakterien einen komplizierten Injektionsapparat benutzten, um die Wirtszellen zu vergiften.

Die tödliche Giftspritze wird aus Einzelteilen zusammengefügt; dabei bilden die Proteine TcB und TcC einen hohlen Behälter, der den Giftstoff enthält. Das Protein TcA ist die größte Komponente und bildet den eigentlichen Injektionsapparat, der aus einer glockenartigen Hülle und einem inneren Kanal besteht. Der Giftbehälter dockt dann am Injektionsapparat an und lässt den Giftstoff in dessen Kanal wandern. Diese fertige „Spritze“ bindet schließlich an einen Rezeptor auf der Oberfläche der Wirtszelle. Die Injektion des Toxins wird anschließend durch eine Änderung des pH-Werts in der Umgebung ausgelöst: Sobald der bakterielle Giftkomplex in das basische Milieu im Darm der Insektenlarven gelangt, kommt es zu einer drastischen Strukturveränderung im TcA-Protein. Dadurch wird die Energie eines molekularen Federmechanismus freigesetzt, der den vorne spitz zulaufenden Zentralkanal mit großer Wucht durch die Zellmembran in die Wirtszelle treibt, wobei das tödliche Gift injiziert wird. Nach Befall mit den Mikroorganismen sterben die Insektenlarven innerhalb von zwei Tagen.

Der von den Berliner Wissenschaftlern beschriebene Injektionsapparat der Photorhabdus-Bakterien ist bisher einzigartig. Allerdings sind die ABC-Toxine auch bei Krankheitserregern des Menschen zu finden, etwa beim Bakterium Yersinia pestis, dem Erreger der Lungen- und Beulenpest. „Deshalb werden die neuen Erkenntnisse auch helfen, die Wirkungsweise humanpathogener Bakterien besser zu verstehen und ihre Giftwirkungen zu bekämpfen“, erklärt Professor Stefan Raunser, der Leiter der Studie. Angesichts der zunehmenden Antibiotika-Resistenz bei bakteriellen Infektionen sei diese Entdeckung von großer Bedeutung.

Der entdeckte Mechanismus birgt jedoch auch großes medizinisches Potenzial. Denn die Wissenschaftler enthüllten, wie medizinische Wirkstoffe gezielt und „beschützt“ in eine Zelle transportiert werden können. „Das ist ein wichtiger Schritt für die Entwicklung von modifizierten Wirkstoffkomplexen, die als Nanospritzen in der Medizin eingesetzt werden können“, sagt Stefan Raunser.

Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dieses Potenzial ebenfalls erkannt und Professor Stefan Raunser für seine erfolgreiche Forschungsarbeit im Jahr 2014 mit dem hochdotierten ERC Consolidator Grant ausgezeichnet. Mit dieser Förderung unterstützt die EU nur wenige, ausgewählte Projekte aus dem Bereich der Spitzenforschung. Professor Stefan Raunser erhält mit der Auszeichnung für die nächsten fünf Jahre zwei Millionen Euro, um seine Untersuchungen an bakteriellen Toxinen fortzuführen.

Prof. Dr. Stefan Raunser, geboren 1976 in Landau in der Pfalz, studierte Chemie und Biologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er fertigte seine Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Werner Kühlbrandt am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt an und  promovierte 2004 im Fach Biochemie an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt. Von 2005 bis 2008 war er Postdoktorand in der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Thomas Walz an der Harvard Medical School in Boston, USA und von 2008 bis 2013 Emmy-Noether-Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund. Von Januar bis Juni 2014 war er Einstein-Professor für Membranbiochemie an der Freien Universität Berlin. Seit Juli 2014 ist er Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Stefan Raunser, Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Physiologie in Dortmund, E-Mail: stefan.raunser@mpi-dortmund.mpg.de