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Wissenschaftler warnen vor einer Vernachlässigung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Europa

Experten der Freien Universität und der London School of Economics fordern: Europäische Forschungsförderung darf nicht einseitig auf Technik und Naturwissenschaften konzentriert werden

Nr. 152/2011 vom 20.05.2011

Wissenschaftler der Freien Universität und der London School of Economics haben bei einer Diskussion mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission in Brüssel davor gewarnt, die EU-Förderprogramme einseitig auf naturwissenschaftlich-technische Forschung zu konzentrieren. Gerade in einem globalisierten Europa spielten die Geistes- und Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Hintergrund der Kritik ist eine Neuausrichtung der Forschungsfinanzierung in der Europäischen Union auf die Förderung von Innovationen und Forschungsprojekte, die sich vor allem mit den Themen Klimawandel, Energie- und Ressourceneffizienz, Gesundheit und demografischer Wandel beschäftigen. Die Wissenschaftler forderten die Europäische Kommission auf, das eigenständige Förderprogramm für Geistes- und Sozialwissenschaften über das Jahr 2014 hinaus fortzuführen.

An der Veranstaltung, die vom Brüsseler Verbindungsbüro der Freien Universität zusammen mit der Europaabgeordneten der Europäischen Volkspartei Maria Da Graça Carvalho in den Räumen des Europäischen Parlaments organisiert worden war, nahmen mehr als 80 Gäste aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft teil.

„Die Frage ist nicht, was Europa für die Geistes- und Sozialwissenschaften tun kann, sondern was die Geistes- und Sozialwissenschaften für Europa tun können“, sagte Professorin Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaftlerin der Freien Universität Berlin und Panel Chair des Europäischen Wissenschaftsrates ERC. Die europäische Gesellschaft habe sich zu einer multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft entwickelt. Die damit verbundenen Fragen und Probleme würden nicht durch Forschungen zum Thema Klimawandel und Energie gelöst.

Iain Begg, Professor an der London School of Economics und Berichterstatter der Expertengruppe zur Evaluierung des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU, wies darauf hin, dass fast drei Viertel der wirtschaftlichen Aktivität in der Europäischen Union derzeit im Dienstleistungssektor erbracht werde. „Innovation in diesem Bereich leistet somit einen wesentlich höheren Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs“, sagte Begg. Geistes- und Sozialwissenschaften bildeten die wissenschaftliche Basis für die Beantwortung politisch hochaktueller Themen. Durch Analysen zu Preisbildung, Regulierung und gesundheitsbewusstem Verhalten leisteten diese Disziplinen auch wesentliche Beiträge zu Herausforderungen wie Klimaschutz und alternde Bevölkerung.

Professorin Maria Da Graça Carvalho, die Mitglied des EU-Parlamentsausschusses für Industrie, Forschung und Energie ist, unterstrich, dass Geistes- und Sozialwissenschaften sehr wichtig seien, um in einer globalisierten Welt soziale Innovation voranzutreiben und den Bürgern eine hohe Lebensqualität zu sichern. Forschung in diesem Bereich bilde die wissenschaftliche Basis, um richtige politische Entscheidungen treffen zu können, betonte auch die Europaabgeordnete Britta Thomsen  von der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten: „Wir brauchen deshalb mehr und nicht weniger europäische Forschung in Geistes- und Sozialwissenschaften.“

Fast 60 Prozent aller Hochschulabsolventen machten ihren Abschluss in den Geistes- und Sozialwissenschaften, gab Charlotte Fiala, Leiterin des EU-Verbindungsbüros der Freien Universität Berlin in Brüssel, zu bedenken. Die zwei Prozent des Budgets, die im derzeitigen Verbundforschungsprogramm für Geistes- und Sozialwissenschaften eingeplant seien, spiegelten diese Relation bereits heute nicht wider: „Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften noch zu kürzen, bedeutet, eine ganze Generation von Nachwuchskräften zu benachteiligen.“

Patricia Reilly, Kabinettsmitglied von Máire Geoghegan-Quinn, der EU-Kommissarin für Forschung und Innovation, antwortete auf die Forderung nach einem eigenständigen Programm: „Ich weiß nicht, ob es ein eigenständiges Programm geben wird. Ich möchte aber die Wichtigkeit von Interdisziplinarität in der Forschung betonen. Wir befassen uns mit Klimawandel, Nahrungsmittelsicherheit, einer alternden Gesellschaft – und die Geistes- und Sozialwissenschaften werden dabei nicht auf einer untergeordneten Position zu anderen Disziplinen stehen.“

Die Freie Universität Berlin hatte sich bereits im Oktober 2010 in einem Positionspapier für die langfristige Forschungsförderung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Europa eingesetzt.  Das Papier war von zahlreichen Universitäten und Wissenschaftsvereinigungen in ganz Europa aufgegriffen und für Appelle an die Kommission und das Europäische Parlament genutzt worden.

Weitere Informationen

Charlotte Fiala, EU-Verbindungsbüro der Freien Universität Berlin in Brüssel;
Telefon: +32 2 213 41 63, E-Mail: charlotte.fiala@fu-berlin.de; www.fu-berlin.de/brussels