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Vorstellung der Studie zur Gewalt am 1. Mai in Berlin

Kriminologen der Freien Universität Berlin haben die Auseinandersetzungen am 1. Mai 2009 in Berlin analysiert

Nr. 33/2010 vom 10.02.2010

Seit 1987 finden zum 1. Mai in Berlin regelmäßig gewaltsame Auseinandersetzungen statt, die heftige Diskussionen auslösen und von den Beteiligten unterschiedlich wahrgenommen werden. Eine reine Fokussierung entweder auf Gewalt oder eine politische Motivation wird den Ereignissen nicht gerecht. Auch die Beweggründe, sich an den Auseinandersetzungen zu beteiligen, sind verschieden: Während einige ihren grundsätzlichen politischen Protest zum Ausdruck bringen wollen, wenden sich andere speziell gegen die Präsenz der Polizei. Für weitere Teilnehmer wiederum steht vor allem der Eventcharakter der Veranstaltung im Vordergrund, ihnen geht es um den Spaß an einem aufregenden Ereignis. Das ist ein Teilergebnis der Studie „Analyse der Gewalt am 1. Mai in Berlin“, die Professor Dr. Klaus Hoffmann-Holland, Kriminologe der Freien Universität Berlin, durchgeführt hat. Die Studie wurde von der „Landeskommission Berlin gegen Gewalt“ in Auftrag gegeben und mit Landesmitteln gefördert.

Die Vorkommnisse am 1. Mai 2009 zogen eine Vielzahl von Festnahmen nach sich. Ziel der Studie war es, die Qualität und Quantität der gewaltsamen Auseinandersetzungen zum 1. Mai 2009 zu analysieren, nicht aber Präventionsmaßnahmen zu evaluieren. Die kriminologische Untersuchung des komplexen Phänomens bezog sich dabei auf die Akteure, deren Motivationen, Aktionen und Interaktionen, also auch auf die Auswirkungen des polizeilichen Handelns.

Die dem Forschungsteam zur Verfügung stehenden Daten beziehen sich im Schwerpunkt auf Gewalthandlungen von Privatpersonen. Für die Studie wurden Akten der Berliner Justiz zum 1. Mai 2009 ausgewertet, Interviews mit Beteiligten geführt sowie Weblogs analysiert. Das Forschungsteam ging dabei nach einem mit dem Berliner Datenschutzbeauftragten abgestimmten Datenschutzkonzept vor.

Zu Ergebnissen der Studie im Einzelnen:

  • Differenzierung und Vielfalt

Die Gruppe der beteiligten Privatpersonen ist nicht homogen. Während einige Teilnehmer an den Auseinandersetzungen mit ihrem Verhalten grundsätzlichen politischen Protest ausdrücken wollen, wenden sich andere speziell gegen die Polizeipräsenz. Für eine dritte Gruppe steht bei den Auseinandersetzungen am 1. Mai vor allem der Spaß an einem „aufregenden Erlebnis“ im Vordergrund. Der 1. Mai in Kreuzberg ist somit ein Forum, bei dem unterschiedliche und teilweise auch widerstreitende Interessen zusammenkommen. Dabei ist zwischen Auseinandersetzungen während der Demonstration und Auseinandersetzungen im weiteren Verlauf des Abends (rund um die Oranienstraße und das Kottbusser Tor) zu unterscheiden.

  • Qualität und Quantität

Im Zusammenhang mit Ereignissen am 1. Mai 2009 in Berlin-Kreuzberg wurden 294 Strafanzeigen registriert, die das Forschungsteam analysierte. Dabei handelt es sich um solche Anzeigen, die von den Strafverfolgungsbehörden als „politisch“ eingestuft wurden. Die Ergebnisse der Studie sind vor diesem Hintergrund zu werten. Von den 294 Strafanzeigen richteten sich 74 gegen Unbekannt. Von den insgesamt 220 erstatteten Strafanzeigen gegen Privatpersonen, deren Personalien die Polizei aufgenommen hatte, betrafen 12,3 Prozent ausschließlich Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und hatten daher keine gewaltsamen Handlungen zum Gegenstand. Damit ist von 193 Anzeigen mit gewaltsamem Hintergrund gegen Privatpersonen, deren Personalien der Polizei vorlagen, auszugehen. Die Ergebnisse der Studie weichen damit von Zahlen ab, die in den Medien und der öffentlichen Debatte genannt werden.

  • Strafanzeigen

Die insgesamt gegen Bekannt und Unbekannt angezeigten Delikte umfassen zu 34,3 Prozent Landfriedensbruch oder schweren Landfriedensbruch, zu 19,1 Prozent Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und zu 4,7 Prozent Sachbeschädigungen. Weitere 26,1 Prozent entfallen auf Vorwürfe gefährlicher Körperverletzungen, wobei davon rund 61 Prozent als versuchte Straftat und rund 39 Prozent als vollendete Straftat angezeigt wurden.

Die Gruppe der Festgenommenen ist heterogen. Das Durchschnittsalter der Festgenommenen insgesamt beträgt 22,5 Jahre. Davon waren rund 18 Prozent zum Zeitpunkt der Festnahme 14 bis einschließlich 17 Jahre (Jugendliche im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes), 24,5 Prozent zwischen 18 bis einschließlich 20 Jahre alt (Heranwachsende), 31,5 Prozent zwischen 21 bis einschließlich 25 Jahre alt und 15 Prozent zwischen 26 und 30 Jahre alt. Älter als 30 waren ca. 11 Prozent der Festgenommenen.

Der weit überwiegende Teil (93 Prozent) der festgenommenen Privatpersonen ist männlichen Geschlechts, nur 7 Prozent sind weiblichen Geschlechts. Eine Betrachtung der Wohnsitze zeigt, dass der überwiegende Teil der Festgenommenen zum Zeitpunkt der Festnahme in Berlin gemeldet war (75,5 Prozent). Bei etwas mehr als der Hälfte (56,5 Prozent) aller Festgenommenen wurde eine Einwirkung von Alkohol auf die Tat angegeben. Vorerfassungen wegen Vorwürfen von Straftaten wurden für 46,8 % der Festgenommen registriert, wobei nur 15 % der Vorerfassungen in den letzten zwei Jahren vor dem 1. Mai 2009 Delikte betreffen, die zu den politischen Delikten nach der polizeilichen und strafrechtlichen Wertung zählen.

  • Interaktionen und Deutungen

Die angezeigten Straftaten richten sich nahezu ausschließlich gegen Polizisten. Dies ist auffällig, da in den Medien neben verletzten Polizeibeamten auch von einer erheblichen Anzahl privater Verletzter die Rede war. Die Ursache kann jedoch nur vermutet werden: Entweder wurden diese Taten von der Polizei nicht als politisch eingestuft, so dass sie der Studie nicht zu Grunde lagen, oder aber die betroffenen Personen erstatteten keine Anzeige. Im Übrigen ist festzuhalten, dass nicht nur die Polizei reagiert, sondern auch die Reaktionen der Polizei und auch schon die bloße Präsenz von Polizisten wiederum Reaktionen hervorrufen. Bei Festnahmen durch Zugriff aus der Menge kommt es dabei eher zu Widerstandshandlungen als bei einer Festnahme nach Absonderung.

  • Ausblick

In Interviews wird die Situation am Kottbusser Tor in Kreuzberg am 1. Mai 2009 als Zustand wahrgenommen, in dem die Grenzen zwischen Beteiligten und Unbeteiligten teilweise aufgehoben waren und Interaktionen eine Eigendynamik entwickelten. Das polizeiliche Vorgehen dort und im Myfest-Bereich im Verlauf des Abends wurde einerseits als einschüchternd und bedrohlich wahrgenommen, andererseits auch als professionell und routiniert. Sowohl in den Interviews als auch in den Blogbeiträgen berichten Privatpersonen von Gewaltanwendung durch die Polizei, die als rechtswidrig eingestuft wird: Unverhältnismäßiger Zwangsmitteleinsatz sowie Schläge und Tritte nach bereits erfolgter Festnahme oder gegen Unbeteiligte.

Für die weitere Forschung ergeben sich damit Fragen hinsichtlich des Verhaltens der Polizeibeamten, denen beispielsweise durch qualitative Interviews mit Polizisten und Erhebungen zu den gegen Polizisten eingeleiteten Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt nachgegangen werden könnte.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Klaus Hoffmann-Holland, Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität, Telefon: 030 / 838 54090; Sekretariat: 030 / 838 54716, E-Mail: kriminologie@fu-berlin.de

Die Studie im Internet

www.fu-berlin.de/maistudie