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„Wir können so nicht weitermachen“

Die Lyrikerin Ann Cotten nutzte die fünfte Siegfried Unseld Vorlesung an der Freien Universität für einen eindringlichen Appell zur Rettung der Welt

16.06.2021

Ann Cotten während der Siegfried Unseld Vorlesung am 9. Juni 2021. Rechts auf dem Screenshot: Universitätspräsident Prof. Ziegler, DHC-Sprecher und -Vorstand Prof. Warstat, Verleger J. Landgrebe und Literaturwissenschaftler W. Hottner.

Ann Cotten während der Siegfried Unseld Vorlesung am 9. Juni 2021. Rechts auf dem Screenshot: Universitätspräsident Prof. Ziegler, DHC-Sprecher und -Vorstand Prof. Warstat, Verleger J. Landgrebe und Literaturwissenschaftler W. Hottner.
Bildquelle: Webex-Screenshot

„Freie Universität und Suhrkamp, beide kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, wollten die intellektuellen Verkrustungen einer unfreien Welt überwinden – und haben sich dabei zu Orten einer kritischen Bestandsaufnahme der Gegenwart entwickelt“, würdigt Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, in seiner Begrüßungsansprache zur fünften Siegfried Unseld Vorlesung die Verbindung von Suhrkamp Verlag und Freier Universität. Er umreißt damit ebenso wie kurz darauf Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe und Professor Matthias Warstat, Sprecher des Dahlem Humanities Center und Gastgeber des digitalen Abends, die freudige Erwartung an den diesjährigen Stargast Ann Cotten. Die Lyrikerin verbirgt sich zu Beginn noch hinter einer Büropalme, im Laufe des Abends aber wird sie die virtuelle Bühne ganz einnehmen.

Nicht im Hier, aber im Jetzt

Ann Cotten, 1982 im US-amerikanischen Bundesstaat Iowa geboren und in Wien aufgewachsen, war wegen der Corona-Pandemie aus Österreichs Hauptstadt zugeschaltet. Die fünfte Siegfried Unseld Vorlesung, eine Kooperation zwischen dem Suhrkamp-Verlag und dem Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin, war im vergangenen Jahr verschoben worden und fand nun erstmals online statt.

Für Ann Cotten nach eigenem Bekunden kein Problem: „Von mir aus ist es okay und wünschenswert, wenn Sie sich eine geeignete Nebentätigkeit suchen “, holte die Lyrikerin ihr aus Büros und Wohnzimmern zuhörendes Publikum gleich zu Beginn mit ins virtuelle Boot.

Mit Sprache die Welt verändern

Ihrer Vorlesung hatte die Lyrikerin Ann Cotten – mit einer Übersetzung von Rosemarie Waldrops „Pippins Tochters Taschentuch“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – den Titel „unentscheidbar“ gegeben – doch unentscheidbar war an diesen eindringlich gesprochenen, musikalisch untermalten Worten rein gar nichts. Denn Ann Cotten, das machte sie schnell klar, versteht sich als Kritikerin einer Unentscheidbarkeit, die Handeln verhindert, wo es dringend geboten ist: „Die Welt gehört uns nicht“, redete Cotten den Zuhörenden ins Gewissen. „Deshalb müssen wir ändern, wie wir über sie sprechen, damit sich ändern kann, wie wir über sie denken. Wir haben nur eine Welt. Und wir müssen sie anders benutzen. Anders, als wir aufgrund christlich-expansionistischer Ideologie geglaubt haben.“

Cotten geißelt in ihrem Vortrag die Ausbeutung der Welt und ihrer Bewohner durch Kolonialismus, Agrarindustrie und Marktwirtschaft. Kein Geld der Welt könne „Insektenarten wiederbeleben, ermordete Bevölkerungsgruppen wieder ins Leben holen, zerstörte Arbeitszusammenhänge von Immigranten wieder aufbauen, ausgestorbenes Wissen zurückbringen, wie man etwa das Jahr taktet, wenn man mit Gemüsen und Nutztieren in einem bestimmten mikroklimatischen Regionalbereich zusammenlebt.“

Brutale Genauigkeit

„Die Unentscheidbarkeit ist der Feind“, wird Cotten später in der Diskussion mit dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Hottner von der Freien Universität noch sagen. Dieser bescheinigt ihr „eine Verbindung von Assoziation, Spekulation und brutalster Genauigkeit“. Fast wirkt es so, als erschrecke Cotten vor dieser brutalen Genauigkeit, als sie sich für eine Entschiedenheit ausspricht, „die ein entschiedenes Zurücknehmen ist“. Doch beim weiteren Nachdenken wirkt auch das dann nur: konsequent.

Beide, Cotten und Hottner, absolvieren derzeit Fellowships am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien – ein Glücksfall, der geholfen hat, diesen Abend zu ermöglichen. Es ist eine Siegfried Unseld Vorlesung, die im Jetzt, aber nicht im Hier stattfindet, wie Ann Cotten es formuliert, und die dennoch in ihren intensivsten, eindringlichsten Momenten vergessen ließ, dass dieser Austausch nur virtuell stattgefunden hat.

„Wir sitzen hier wirklich in zwei verschiedenen Räumen im selben Gebäude“, versichert Hottner – und verleiht damit zugleich der Hoffnung Ausdruck, dass der intellektuelle Austausch zwischen Literatur, Medien und den Geisteswissenschaften, den sich das Dahlem Humanities Center, die Freie Universität und der Suhrkamp Verlag mit der Unseld Vorlesung auf die Fahnen geschrieben haben, beim nächsten Mal endlich wieder persönlich stattfinden kann.