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Politische Moderne global verstehen

Der brasilianische Soziologe José Maurício Domingues ist mit dem Anneliese Maier-Forschungspreis ausgezeichnet worden / Anfang kommenden Jahres wird er zu Gast am Lateinamerika-Institut der Freien Universität sein

13.09.2018

Preisträger J. M. Domingues (2. v. r.) mit E. Aufderheide (l.), Generalsekr. AvH-Stiftung, W. Knöbl (2. v. l.), Institut für Sozialforschung, S. Costa (3. v. l.), Lateinamerika-Institut der Freien Universität und Thomas Rachel (r.), Parl. StS BMBF.

Preisträger J. M. Domingues (2. v. r.) mit E. Aufderheide (l.), Generalsekr. AvH-Stiftung, W. Knöbl (2. v. l.), Institut für Sozialforschung, S. Costa (3. v. l.), Lateinamerika-Institut der Freien Universität und Thomas Rachel (r.), Parl. StS BMBF.
Bildquelle: Humboldt-Stiftung/ Jens Jeske

Die Gegenwart könne man nur verstehen, wenn man sie global betrachte – davon ist José Maurício Domingues überzeugt. Der Soziologe von der Rio de Janeiro State University ist dafür bestens ausgerüstet: Er liest sechs Sprachen – neben seiner Muttersprache Portugiesisch auch Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch und Italienisch – und war zu Forschungszwecken in Indien, China und Israel. Sein Forschungsinteresse gilt dem Entstehungsprozess der politischen Moderne. Domingues versteht darunter im Wesentlichen die Art und Weise, wie Politik im 21. Jahrhundert funktioniert. Ihren Anfang nahm die politische Moderne im 19. Jahrhundert in Europa. Von hier aus breitete sie sich über die ganze Welt aus.

Preis soll Geisteswissenschaft internationalisieren

Für seinen „Brückenschlag zwischen den Kontinenten“ hat die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) den Wissenschaftler auf Vorschlag von Soziologieprofessor Sergio Costa vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität und Professor Wolfgang Knöbl vom Hamburger Institut für Sozialforschung am 12. September 2018 mit dem Anneliese Maier-Forschungspreis ausgezeichnet. Der Preis ist mit 250.000 Euro dotiert und soll für Forschungskooperationen in Deutschland eingesetzt werden.

Mit dem Preisgeld wird die Zusammenarbeit mit Fachkolleginnen und Fachkollegen in der Bundesrepublik für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren finanziert. Der Preis soll nach dem Willen der AvH-Stiftung die Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland voranbringen; er wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert.

Zeitgenössischer Theoretiker der globalen Moderne

In der Würdigung durch die Vorschlagenden heißt es: „Das Werk von Professor Domingues ist durch eine konsequente Theorieorientierung charakterisiert, er gilt als einer der Wenigen, denen es gelingt, theoretische Debatten, die in Lateinamerika sowie im englischen, französischen und auch im deutschen Sprachraum geführt werden, miteinander zu verbinden. Damit wurde er zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker, die die globale Moderne aus einer zivilisationsvergleichenden Perspektive untersuchen.“

Domingues forscht und lehrt in zahlreichen Ländern, dabei erweitert er ständig seine Fremdsprachenkenntnisse. Studiert hat der Soziologe in Großbritannien, in Deutschland hat er diverse Forschungsaufenthalte verbracht. Neben Forschungsaufenthalten in Asien und Israel lehrt Domingues in Südamerika; im vergangenen Jahr war er zudem sechs Monate an der „New York University“ tätig.

Domingues‘ Arbeit zeichnet sich durch einen interdisziplinären Ansatz aus: Er bezieht geschichtswissenschaftliche Untersuchungen und philosophische Überlegungen in seine Arbeit ein – eine Besonderheit unter Soziologen, die sich durch sein Studium erklärt: Domingues hat an der katholischen Universität von Rio de Janeiro Geschichte studiert und sich eigenständig in die Philosophie der Neuzeit eingelesen. Wer sich nur mit theoretischer Soziologie beschäftige, meint Domingues, laufe Gefahr, sich in einem Theoriegebäude zu verlieren. „Mein Wissen über Geschichte und Philosophie hilft mir dabei, Theorien kritisch zu überprüfen.“

Ein Beispiel hierfür ist Domingues‘ Doktorarbeit. In dieser beschäftigte sich der Wissenschaftler mit der Auffassung, soziales Leben ergebe sich durch die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv. Diese Annahme war unter Vertretern der allgemeinen soziologischen Theorie, welche sich in Westeuropa und Nordamerika nach 1945 entwickelt hatte, weit verbreitet. Er verglich diese Auffassung über Kollektive und Subjekte mit den Aussagen der Philosophen Jürgen Habermas und Karl Marx.

Domingues kam zu dem Schluss, dass sich Kollektive – etwa Religionen oder politische Parteien – auch untereinander stark beeinflussen. Für dieses Phänomen prägte er den Begriff „kollektive Subjektivitäten“. Später setzte der Forscher sich mit „Sozialer Kreativität“ auseinander, bei der untersucht wird, wie Kreativität durch sozialen Austausch entsteht.

Diese Konzepte sind in Domingues‘ neuestes Buch eingegangen, das im Frühjahr 2019 erscheinen wird. Es ist eine Zusammenfassung seiner bisherigen Forschung und beschäftigt sich mit der politischen Moderne, soll aber auch eine Alternative zu bestehenden soziologischen Konzepten bieten. Für die Analyse der gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnisse hat Domingues abermals die Ideen zweier deutscher Philosophen aufgegriffen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und – erneut – Karl Marx. Sie seien die Ersten gewesen, die die Realität in systematische Kategorien unterteilt und daraus eine Prozessanalyse abgeleitet hätten.

Forschungsaufenthalt in Deutschland 2019

Mit Blick auf die Gegenwart sieht Domingues, wie viele andere, in Europa und den USA einen klaren Trend zur Entdemokratisierung. Dem Wissenschaftler geht es dabei um mehr als um Kritik an US-Präsident Donald Trump: Der Soziologe prangert vielmehr die Entwicklung des demokratischen Systems hin zu oligarchischen Herrschaften an, in denen nur wenige – reiche – Menschen Macht hätten, so wie es in den USA der Fall sei. Auch den Begriff „Populismus“ hält er für falsch – Domingues unterscheidet zwischen Links, Rechts und Liberal.

Seiner Ansicht nach könne viel zur Unterstützung von demokratischen Strukturen getan werden: Parteien und Medien müssten demokratisiert, die Zivilgesellschaft gestärkt, die repräsentative Demokratie um Aspekte der direkten Demokratie ergänzt und die – wie er es nennt – „Macht des Kapitals neutralisiert“ werden. Im Januar und Februar 2019 wird Domingues im Rahmen eines Forschungsaufenthalts nach Hamburg an das Institut für Sozialforschung und nach Berlin an das Lateinamerika-Institut der Freien Universität kommen. Dort wird er unter anderem untersuchen, wie linke, politische Kräfte in Deutschland auf den Zuspruch reagieren, den rechte Strömungen derzeit erfahren.