Springe direkt zu Inhalt

Die Entstehung der Unparteilichkeit

Die Romanistin Anita Traninger untersucht einen Zentralbegriff der Wissensgeschichte

27.08.2012

Anita Traninger wird als Einstein Junior Fellow von der Einstein Stiftung Berlin gefördert.

Anita Traninger wird als Einstein Junior Fellow von der Einstein Stiftung Berlin gefördert.
Bildquelle: ESB / E. Contini

Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Die Romanistin Anita Traninger befasst sich mit dem Zeitraum, in dem sich ganz unterschiedliche Wissenschaftszweige zur Unparteilichkeit verpflichteten. „Die lateinische Gelehrtenkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit kam ohne einen Begriff von Unparteilichkeit aus“, sagt Anita Traninger. „Wissenschaftliche Auseinandersetzung wurde gleichsam als Kampf betrieben, in dem Kontrahenten Thesen angriffen und verteidigten. Es ging um Sieg oder Niederlage.“

Die Literaturwissenschaftlerin, deren Forschungsgebiet die Rhetorik- und Wissensgeschichte ist, hat eine Förderung als Einstein Junior Fellow von der Einstein Stiftung Berlin erhalten, um den Wandel der Wissenschaft am Übergang von der frühen Neuzeit zur Frühaufklärung zu untersuchen. „Man kann beobachten, dass sich im 17. Jahrhundert eine Fülle an Publikationen als unparteilich präsentiert. Die Frage ist: Womit hängt das zusammen?“

Die in Wien promovierte und an der Freien Universität Berlin habilitierte Romanistin hat bereits eine Hypothese, die sie während der dreijährigen Förderungszeit überprüfen will. Traninger geht davon aus, dass die Wende zur Unparteilichkeit eng mit einem Medienwechsel zusammenhängt: Noch im 16. Jahrhundert, lange nach der Erfindung des Buchdrucks, sei Wissenschaft in Disputationen mündlich betrieben worden, sagt Traninger. Im 17. Jahrhundert hingegen seien Debatten zunehmend in Texten ausgetragen worden. „Ich gehe davon aus, dass die Praxis der Schriftlichkeit und die damit verbundene Öffentlichkeit ein neues Verhältnis zwischen den Kontrahenten hervorbrachte.“

Veränderung durch Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit

Bislang wurde angenommen, dass die Entstehung der faktenbezogenen Naturwissenschaften auch die Geisteswissenschaften zur Objektivität verpflichtete. Traninger geht diese These nicht weit genug. Sie ist davon überzeugt, dass der Medienwechsel mindestens genauso einflussreich war. „Ein Disputator konnte eine beliebige Position einnehmen und mündlich verteidigen, ohne sie wirklich zu vertreten“, sagt sie. „Wie in einem Roman, in dem sich Autor und Erzählerstimme unterscheiden, musste die Meinung des Privatmenschen nicht unbedingt deckungsgleich sein mit der Meinung des Disputierenden.“ Diese Argumentationsfreiheit wird im 17. Jahrhundert – zumindest in der Wissenschaft – beschnitten.

Mit dem Forschungsprojekt knüpft die Literaturwissenschaftlerin an ihre Habilitationsschrift an, in der sie scholastische und humanistische Formen des Disputierens untersucht hat. Die Arbeit an ihrem neuen Projekt könnte jene Forschungsergebnisse erweitern und wichtige Erkenntnisse liefern, wann und in welcher Form sich der Umgang in den Wissenschaften mit dem Wahrheitsbegriff verändert. „Ich gehe davon aus, dass sich dieser Wandel nicht in Form eines Bruchs oder einer radikalen Wende vollzieht, sondern dass es sich um einen unterschwelligen, langsamen Prozess handelt.“ Damit ist ein Wandel benannt, der das moderne Denken von Grund auf revolutioniert hat.