Der Wunsch nach einem warmen Frieden und die kalte Realität
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs
Jahrzehntelang hat sich die Friedensforschung dafür eingesetzt, Frieden nicht bloß als kühle Abwesenheit physischer Gewalt zu verstehen, sondern als Zustand lebendiger, sozialer Gerechtigkeit. Inspiriert durch kritische Friedensforschende gewann auch die Idee eines „Everyday Peace“ als normative Zielmarke an Bedeutung – eines organischen zwischenmenschlichen Friedens, der aus alltäglichen Handlungen der Zivilgesellschaft erwächst und nicht nur auf den Machtteilungsarrangements oder Gnadenakten von politischen Entscheidungstragenden und Eliten beruht. Diese visionären Ansätze für positiven Frieden befinden sich nun auf dem Prüfstand der Realität. Angesichts der Intensität weltweiter Gewaltkonflikte wirken maximalistische Friedenskonzepte geradezu utopisch.
Kurzfristige Lösungen bergen Risiken
Ob Gaza, Kongo, Ukraine oder Sudan: 80 Jahre nach den deutschen Vernichtungskriegen in Europa leben wir noch immer in einer Welt, in der vielerorts bereits eine humanitäre Waffenruhe oder das Wahren des Kriegsvölkerrechts ein Triumph wären. Der Ruf, die Waffen mögen schweigen, übertönt vor diesem Hintergrund zunehmend das Streben nach langwierigen Bemühungen um nachhaltige Versöhnung und einen warmen Frieden. Die Friedensforschung steht vor der Herausforderung, eine Balance zwischen diesen Polen zu finden.
Denn so nachvollziehbar der Wunsch nach unmittelbarer Gewaltvermeidung ist, so risikobehaftet sind kurzfristige Lösungen für tiefverwurzelte Gewaltdynamiken. Sie drohen, strukturelle Ungerechtigkeiten zu zementieren, systemische Unterdrückung zu normalisieren und damit – ungewollt – auch menschenverachtende Formen von Widerstand zu befördern. Gerade die brutalen Massaker des 7. Oktobers haben deutlich gemacht, dass oberflächliches Konfliktmanagement tiefliegende Konflikte um Selbstbestimmung nicht nachhaltig lösen kann.
Jannis Grimm leitet die Forschungsgruppe „Radical Spaces“ am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung am Otto-Suhr-Institut.Weitere Informationen
Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch. Alle Beiträge der Reihe „Wie enden Kriege?“ finden Sie hier.