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Frieden zum Verkauf

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Historikerin Jessica Gienow-Hecht

Historikerin Jessica Gienow-Hecht
Bildquelle: Martin Funck

„Ich weiß nicht“, soll der französische Premierminister Georges Clemenceau 1919 während der Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg gesagt haben, „ob der Krieg ein Zwischenspiel im Frieden oder der Frieden ein Zwischenspiel im Krieg ist.“ Vielleicht war das sarkastisch gemeint, aber 100 Jahre später klingen seine Worte sehr ernsthaft. Um Frieden zu schließen, muss es einen Krieg gegeben haben mit mindestens zwei Parteien, mit einem Anfang und einem Ende. Die Anfänge beider Weltkriege (1914–18, 1939–1945) wurden zumindest formell durch eine ganze Reihe von Kriegserklärungen gekennzeichnet. 

Doch seitdem sind formale Erklärungen und die Frage, was Krieg ist (und was Frieden), oftmals unklar. Die Vereinigten Staaten zum Beispiel haben seit 1942 offiziell keinen Krieg mehr erklärt, obwohl die Nation seitdem mehr als 240 „militärische Operationen“ durchgeführt hat. Die Gründe für diese Verschiebung sind zum Teil verfassungsrechtlicher Natur: US-Präsidenten können alleinverantwortlich keinen Krieg erklären – das kann nur der Kongress. Allerdings kann der Präsident als Oberbefehlshaber militärische Operationen anordnen. 

Abkommen ohne vorherige Kriegserklärung – Kriegsende ohne Friedensabkommen

Seltsamerweise kann man auch Friedensverhandlungen führen, ohne dass zuvor ein Krieg erklärt wurde. Die Konflikte in Korea, Vietnam und im Kosovo endeten alle mit einem Abkommen, obwohl es keine Kriegserklärung gab. Derzeit sprechen wir über Friedensverhandlungen in der Ukraine, obwohl Russland seinem Einmarsch im Jahr 2022 keine Kriegserklärung vorangestellt hat. Krieg ist in diesen Szenarien ein Zustand und ein Ort („der Krieg in der Ukraine“). Israel zum Beispiel erklärte 2023, sich im „Kriegszustand“ zu befinden, aber in Doha und anderswo wimmelt es nur so von Friedensunterhändlern.

Am 10. Juni 1999 verabschiedete der Weltsicherheitsrat die lange umstrittene Kosovo-Resolution. Das Papier schuf die Voraussetzungen für den Einsatz der Friedenstruppe im Kosovo.

Am 10. Juni 1999 verabschiedete der Weltsicherheitsrat die lange umstrittene Kosovo-Resolution. Das Papier schuf die Voraussetzungen für den Einsatz der Friedenstruppe im Kosovo.
Bildquelle: Picture Alliance / dpa / Matt Campbell

Man kann einen Krieg auch ohne ein Friedensabkommen beenden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs unterzeichneten die Parteien keinen Friedensvertrag. Warum? Weil es ab 1949 zwei deutsche Staaten gab, und Experten lange Zeit darüber diskutierten, ob und wo das Deutsche Reich rechtlich gesehen weiterhin existierte. Erschwerend kam hinzu, dass keiner der beiden deutschen Staaten das Recht, einen Friedensvertrag mit den Alliierten zu schließen, an den anderen abtreten wollte.

Wirklich geregelt wurde die Angelegenheit erst mehr als vierzig Jahre später im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der die für einen Friedensvertrag typischen Fragen klärte, vor allem die künftigen Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands. 

Seitdem sind für die meisten Europäer – vor allem für Westeuropäer – Kriege und Friedensschlüsse entweder etwas sehr Historisches oder etwas sehr Entferntes. Historisch gesehen ist dies eine Anomalie. Unsere Vorfahren waren es gewohnt, dass Krieg und Frieden nahe beieinanderliegen. Meine Großeltern haben zwei Weltkriege miterlebt, meine Eltern einen. Ich bin die erste in meiner Familie seit vielen Generationen, die keinen bewaffneten Konflikt „vor der eigenen Haustür“ gesehen oder miterlebt hat.  

Ein solcher, historischer Abstand verändert die Einstellung zu Krieg und Frieden, auch in den politischen Führungsetagen. Friedensverhandlungen nehmen heute zunehmend die Dimension eines Spektakels an; sie sind Mehrparteienveranstaltungen mit großer medialer Aufmerksamkeit, an denen viele verschiedene Akteure aus als neutral geltenden Ländern beteiligt sind.

Schillernde Gelegenheiten zur Selbstdarstellung

Historisch gesehen gibt es zwar Vorläufer, aber im Zeitalter der globalen 24/7-Nachrichten und für viele Vermittler heute – sowohl für Erstunterhändler wie Trumps Gesandten für Russland und den Nahen Osten, den Immobilieninvestor Steve Witkoff, als auch für kleinere Staaten, die um internationalen Einfluss wetteifern, wie Katar und Saudi-Arabien – haben sich Friedensverhandlungen in schillernde Gelegenheiten zur Selbstdarstellung verwandelt: Events, auf denen man die eigenen Führungsqualitäten unter Beweis stellen kann, mit glanzvollem Lokalkolorit, mit Flaggen, Empfangshallen und der Zurschaustellung der Nation vor laufenden Kameras aus aller Welt, mit dem Versprechen internationaler Sichtbarkeit und, wer weiß, vielleicht sogar der Hoffnung auf einen Nobelpreis?

Friedensverhandlungen sind in der Tat zu trüben Gewässern geworden, da Überlegungen über die Natur, die Komplexität und die „Fairness“ eines Konflikts (wie auch immer definiert) zunehmend mit den individuellen Interessen Dritter konkurrieren. Georges Clemenceau war vielleicht nicht immer in der Lage, zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden, aber er wusste genau, dass beides kein bloßes Spektakel war.

Jessica Gienow-Hecht ist Professorin für Geschichte am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien.

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Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch. Alle Beiträge der Reihe „Wie enden Kriege?“ finden Sie hier.