Wo die Zeit stehengeblieben scheint
Post aus Großbritannien! Helena Winterhager fühlt sich in Oxford manchmal in das England des frühen 20. Jahrhunderts zurückversetzt
14.01.2016
Ein bisschen wehmütig saß ich kurz vor Weihnachten im Bus Richtung Flughafen London-Heathrow. Die Abreise aus Oxford fiel schwer, auch wenn ich drei Wochen später schon aus Berlin zurückkehren würde. Hätte ich mich vielleicht doch entschließen sollen, das Weihnachtsfest einmal hier in England zu feiern? Zuletzt noch beim Singen der rhythmisch-beschwingten englischen Weihnachtslieder im College war mir klar geworden, dass das Fest hierzulande (ähnlich wie in den USA oder Skandinavien) heiterer und vergnügter, weniger „besinnlich“ als in Deutschland begangen wird.
Schon von der Melodie her verbreiten Lieder wie God rest you merry gentlemen oder Twelve Days of Christmas eine ganz andere Stimmung als etwa die getragenen Klänge von Stille Nacht. Bereits am Boxing Day (bei uns: zweiter Feiertag) herrscht zudem wieder reges Treiben mit Schnäppchenjagd im Post-Christmas Sale, vollem Sportprogramm und sonstigen Veranstaltungen.
Ein Hauch von Klassensystem
Dabei lieben sicher auch die Engländer eine Prise Sentimentales zu Weihnachten. Dieses Jahr war das Fest unter anderem gekennzeichnet durch die Ausstrahlung des unwiderruflich letzten Christmas Specials von Downton Abbey, der nun schon klassischen Erfolgsserie beim Sender ITV (Independent Television). Wer diese Fernsehserie sieht, findet sich zurückversetzt in das England des frühen 20. Jahrhunderts, in die damalige Klassengesellschaft mit aristokratischer Oberschicht „upstairs“ und der Dienerschaft im Untergeschoss.
Man möchte denken: Das alles liegt weit zurück – doch wer in Oxford studiert, fühlt sich in mancher Beziehung erinnert an jene historischen Zustände. So ist es mir noch immer etwas unangenehm, wenn wir Studierende in unseren akademischen Talaren beim College Dinner von zum Teil Gleichaltrigen bedient werden. Und auch die Tatsache, dass die Studentenzimmer wöchentlich durch ein Heer von Reinigungskräften – in Oxfords als scouts, in Cambridge als bedders bezeichnet – gesäubert werden, wird von vielen nicht-britischen Studierenden als ein Hauch von Klassensystem wahrgenommen.
Traditionen sorgen für das besondere Flair
Dabei ist die Leitung der Universität bemüht, dem elitären Image zugunsten eines modernen, egalitären entgegenzuarbeiten. Das eifrige Streben nach Diversität und politischer Korrektheit nimmt mitunter kuriose Züge an, wenn etwa jüngst Themenbälle zu den 1920ern und zur Jazz-Ära in New Orleans kritisiert wurden, weil dadurch vergangene Epochen, in denen Geschlechter- und Rassenungleichheit herrschten, nostalgisch verklärt würden. Ungeachtet solcher Debatten aber will die Mehrzahl der Studierenden – wie alle Abstimmungen zeigen – im Ganzen eher festhalten an den alten Traditionen. Bei vielen herrscht die Sorge, dass durch allzu starke zeitgeist-bewegte Neuerungen das ganz besondere Flair, das den Reiz von Oxford ausmacht, verloren gehen könnte.
Wer diese einmalige Atmosphäre lieben gelernt hat, kann die Sorge verstehen: Bei aller ironischen Distanz genießt man diesen Ort gerade deshalb so, weil hier die Zeit in mancher Hinsicht stehengeblieben scheint.