Britisch und multikulturell
Zweite „Post aus... Sydney“: Jennifer Gaschler lernt angelsächsische Traditionen in der australischen Gesellschaft kennen
13.12.2019
An der University of Sydney gibt es mehr als 200 Clubs und Vereine. Die werden mit viel Enthusiasmus und Zeitaufwand von den Studierenden organisiert und sind eine tolle Gelegenheit, Menschen aus aller Welt kennenzulernen. Ich bin Mitglied in der „Dramatic Society“, dem Theaterverein, der bekannt ist als älteste durchgängig aktive Theaterkompanie in Australien.
Für unsere Produktion von „The Bleeding Tree“ habe ich das Bühnenbild entworfen. Das Stück des einheimischen Dramatikers Angus Cerini handelt von häuslicher Gewalt in einer Kleinstadt im Outback, deshalb spielten die Darstellerinnen auf einem Teppich aus Wüstenblumen. Bei der nächsten Inszenierung bringe ich meinen eigenen kulturellen Hintergrund ein: Ich führe Regie bei „Der Prozess“ von Franz Kafka.
Die Lehrbeauftragten am Institut für Performance Studies sind auch alle selbst in der Theaterszene aktiv. Ein Dozent hat mir angeboten, bei seinem neuesten Dokumentarstück zu assistieren, in dem afghanische Einwanderer persische Poesie vorstellen. Denn obwohl Australien als multikulturelles Erfolgsprojekt bekannt ist, gibt es zurzeit laute politische Forderungen, weniger muslimische Geflüchtete aufzunehmen. Als Gegenstimme soll das Projekt verdeutlichen, dass die Neuangekommenen keinesfalls mit leeren Händen dastehen, sondern eine reiche Kultur mitbringen.
An der Universität arbeitet gerade ein indigener Regisseur, der in einem Theaterstück seine eigenen Erfahrungen der Zwangsadoption verarbeitet – eine bis zu den 1970er Jahren verbreitete Praxis, Kinder von Aborigines ohne Einverständnis der Eltern an weiße Familien zu geben, um sie zu assimilieren. Bei ihm mache ich nun ein Praktikum, um für meine Masterarbeit Einblicke in vergangene und noch immer existierende Dynamiken des Rassismus zu gewinnen.
Außerdem singe ich im Universitätschor, den es bereits seit 161 Jahren gibt. Hier werden die britischen Traditionen lebendig gehalten, obwohl die Choristen so bunt sind wie der Campus – Australier, Chinesen, Inder, Japaner, Südostasiaten und Europäer musizieren gemeinsam. Wir treten in akademischen Roben auf, und bei den Festessen wird zu Beginn nach wie vor die britische Hymne „God Save the Queen“ gesungen – obwohl seit 1984 „Advance Australia Fair“ die offizielle Nationalhymne ist. Unser Weihnachtskonzert fand in der Großen Halle statt, die mich immer an Harry Potters Hogwarts denken lässt.
Was die Temperaturen angeht, ist es wenig weihnachtlich: Hitze und Dürre haben zahlreiche Waldbrände ausgelöst, von denen zurzeit weltweit berichtet wird. Ganz Sydney liegt unter einem Rauchschleier, der alles wie ein Sepiafoto wirken lässt. An manchen Tagen ist die Luftqualität schlechter als im indischen Delhi und bisweilen regnet es sogar Asche. Während sich viele Australier nicht in ihrer Vorweihnachtsstimmung stören lassen, gibt es wöchentlich große Proteste für mehr Klimaschutz.
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Jennifer Gaschler schickt „Post aus…Sydney“! Sie ist eine von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten. Hier finden Sie alle Berichte von Jennifer Gaschler.