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Was verrät ein Gesicht über eine Person?

In ihrer Antrittsvorlesung „Wir die Deutschen“ behandelte Gastprofessorin Lina Meruane das Thema Identität

04.07.2022

Eine Frage der Perspektive. Lina Meruane (r.) erläuterte im Rahmen ihrer Antrittsvorlesung ihre Überlegungen zur Lesbarkeit von Gesichtern.

Eine Frage der Perspektive. Lina Meruane (r.) erläuterte im Rahmen ihrer Antrittsvorlesung ihre Überlegungen zur Lesbarkeit von Gesichtern.
Bildquelle: Privat

Wenn eine chilenische Schriftstellerin ihre Antrittsvorlesung als Samuel-Fischer-Gastprofessorin an der Freien Universität auf Englisch hält und mit dem Titel „Wir die Deutschen“ überschreibt, dann ist das – zumindest überraschend.

Lina Meruane, die im laufenden Sommersemester am Peter Szondi-Institut lehrt, wurde 1970 als Kind palästinensischer und italienischer Eltern in Santiago de Chile geboren. Sie lebt seit 20 Jahren in New York, wo sie an der New York University unterrichtet. Ihre Bücher sind in elf Sprachen übersetzt worden. Dass das Thema Identität sie seit Langem beschäftigt, ist vor diesem Hintergrund wohl nicht überraschend.

Seit 2020 einen „Koffer in Berlin“

„Wir die Deutschen“, der Titel ihrer Vorlesung, bezieht sich auf ihren Essayband „Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina“, der im Frühjahr 2020 im Berenberg Verlag erschienen ist. Dem Jahr, in dem sie ihre Gastprofessur an der Freien Universität eigentlich antreten wollte. Durch Corona musste der Aufenthalt verschoben werden.

Ihr „Koffer in Berlin“ stehe deswegen schon seit zwei Jahren in Dahlem, wie David Wachter vom Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität bei der Begrüßung sagte. Die Freude, dass es mit dem Antritt der Gastprofessur jetzt geklappt hat, war bei allen groß.

In „Wir die Deutschen“ nimmt Lina Meruane ein Erlebnis während einer Reise nach Israel auf. Ein israelischer Soldat an einem Grenzposten am Übergang in die palästinensischen Gebiete hatte auf eine nähere Kontrolle der Reisegruppe verzichtet, nachdem er den Pass des einzigen Deutschen der Gruppe gesehen hatte.

Viele Gesichter in einem?

Dies warf bei Lina Meruane Fragen auf. Wo kommst Du her, wer bist Du? – Fragen zur Identität, die die Schriftstellerin umtreiben. Und so wurde die Reise in die Heimat ihrer palästinensischen Großeltern, ins heutige Israel, eine Reise auf der Spur dieser Fragen – und das daraus entstandene Buch ein Nachdenken über Identität.

Was man aus dem Gesicht eines Menschen lesen kann, spiele dabei offenbar eine Rolle, so die Schriftstellerin. Am Gesicht ihres Gegenübers orientierten sich schließlich Menschen zuerst, wenn sie Antwort auf die Fragen suchen: ‚Wo kommst du her, was bist du für ein Mensch?‘“. Lange sei sie etwa davon ausgegangen, ein „chilenisches Gesicht“ zu haben, sagte Meruane – bis sie bemerkt habe, wie oft das auf ihren Reisen hinterfragt wurde.

Sie höre häufig: „Sie kommen sicher aus x oder y!“. So werde sie zuweilen als Ägypterin verortet. In den USA hörte sie, sie habe ein „hebräisches“ Gesicht. Oder ein „mediterranes“. Also könne man offensichtlich viele Gesichter in ihrem Gesicht lesen. Das bereite ihr Kopfzerbrechen. „Leute lesen gerne etwas in die Gesichter von Fremden“, sagte Lina Meruane. Nicht nur das Geburtsland, auch Charaktereigenschaften. „Der sieht ‚fies‘ aus, jener wie ein Weichling, zum Beispiel.“

Diese Versuche der Identifizierung gebe es besonders häufig an anonymen Durchgangsorten, an Flughäfen zum Beispiel, an Orten, an denen man sonst nichts weiß von denen, deren Weg man kreuzt.

Kameras in öffentlichen Räumen erfassen Gesichter

Seit dem 19. Jahrhundert gibt es systematische Versuche, Menschen anhand ihrer Gesichter und Schädel zu identifizieren und klassifizieren. Die Kraniologie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang mit rassistischen Theorien populär. Sie besagt, dass das Schädel-Maß Aufschluss über den Charakter eines Menschen gebe.

Diese in der Nazi-Zeit verbreitete Lehre ist längst diskreditiert und widerlegt. Umso irritierender sei es, dass es auch heutzutage politisch Verantwortliche gebe, die geradezu „besessen“ davon seien, Gesichter „entziffern“ zu können, sagte Lina Meruane. Das gelte insbesondere an Landesgrenzen. Durch Kameras in öffentlichen Räumen würden Gesichter in Bytes zerlegt, digitale Gesichtsarchive für Überwachungszwecke angelegt.

Was aber sei der Zweck, Menschen erfassen zu wollen, fragte sich Lina Meruane. Die Schriftstellerin kritisierte, dass in ihrem gewählten Wohnland, den USA, bei Volkszählungen nach wie vor auf der Kategorie „Rasse“ bestanden werde. „Wir finden das immer noch wichtig – als ob uns das etwas über unser Gegenüber erzählen könnte“, gab die Schriftstellerin zu bedenken. Sich mit derartigen Fragen kritisch auseinanderzusetzen, sei ein lohnendes Betätigungsfeld von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, sagte Lina Meruane.

Im Sommersemester hält sie das Seminar „The face: an approach from many angles“ (Das Gesicht: eine Annäherung aus vielen Blickwinkeln).