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Samuel Fischer-Gastprofessorin Dorothee Elmiger: Gegen das Filetiermesser am Schreibtisch

Was die Kunst des Erzählens mit fachgerechter Metzgerei zu tun hat, erklärte die Schweizer Autorin in ihrer Antrittsvorlesung

01.12.2021

Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger hatte sich für den zweiten Teil ihrer Antrittsvorlesung Unterstützung geholt: von dem Dramatiker und Hörspielautor Wolfram Lotz.

Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger hatte sich für den zweiten Teil ihrer Antrittsvorlesung Unterstützung geholt: von dem Dramatiker und Hörspielautor Wolfram Lotz.
Bildquelle: Screenshot

Das Schlachterhandwerk verfolgt Dorothee Elmiger seit ihrer Kindheit. Schon ihre Großväter, Onkel und Tanten zerlegten und verarbeiteten Tiere, erzählte die Schweizer Prosa-Autorin am 10. November in ihrer digitalen Antrittsvorlesung zur Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität. Lässt sich, fragte sie unter dem Titel „Über oder gegen den Umgang mit dem Filetierbesteck (in der Literatur)“, aus dieser familiären Prägung etwas über das Schreiben in Erfahrung bringen? Und darüber, wie die Wirklichkeit in den Text kommt?

Im Rahmen der Gastprofessur kommen jedes Semester namhafte Autorinnen und Autoren aus aller Welt an das Peter Szondi-Institut, um ein Seminar zu leiten und eine Vorlesung zu halten. Das Seminar gibt den Studierenden die Möglichkeit, eigene Texte und Ideen mit denen zu diskutieren, die selbst schreibend arbeiten und über die Entstehungsprozesse berichten können.

Dorothee Elmiger wurde seit der Veröffentlichung ihres Debütromans „Einladung an die Waghalsigen“ im Jahr 2010 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Schweizer Buchpreis. 2020 stand sie mit ihrem zuletzt erschienenen, dritten Buch „Aus der Zuckerfabrik“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Der Nicht-Roman sticht vor allem heraus, weil er weitgehend auf Handlung verzichtet. Vielmehr sammelt er Material zur Geschichte des Zuckers und schafft überraschende Verbindungen zwischen Biographien, Lektürefrüchten und Eindrücken.

Wider die Literatur-Metzgerei

Mit dem Filetierbesteck, das Dorothee Elmiger in den Titel ihrer Antrittsvorlesung gesetzt hatte, wird das Fleisch vom Knochen gelöst. „Es wird also gewissermaßen sortiert, es wird das Weiche vom Harten getrennt, das Bekömmliche vom Unbekömmlichen, das, was Absatz findet, die edlen Stücke, vom relativ Wertlosen“, sagte Elmiger. Bezogen auf die Literatur und auf die Bearbeitung und Beschreibung der sogenannten Wirklichkeit im Text – empfiehlt sich das Filiermesser auch für den Umgang am Schreibtisch?

Ein Metzgeronkel, den Dorothee Elmiger als „Vertreter der Wirklichkeit“ zu Wort kommen ließ, warf ein, dass wirkliche Metzger weniger vom Filetieren sprächen als vom Aus- oder Entbeinen. Ausbeinen, das heiße auf Schweizerisch auch: „gründlich untersuchen“.

Die Welt muss also nur gründlich ausgebeint, seziert und auseinandergenommen werden, um alles genau anzuschauen und auch die kleinsten Teile ans Licht zu heben? Aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht.

Gefahr, „die Dinge tippend totzumachen“

Denn es bleibe ja das Problem des Metzgers, nämlich dass der ausgebeinte Gegenstand tot sei, sagte Elmiger. „Hier treffen wir uns also, der Onkel und ich, da stehen wir mit demselben Problem, dass wir Gefahr laufen, die Dinge totzumachen im Prozess, sobald wir versuchen, sie in den Griff zu bekommen, sie aus dem Wust der Welt herauszulösen und sie dann zu erzählen.“

Schreiben verlangt, die chaotische und widerstreitende Gleichzeitigkeit der Erfahrungen unter syntaktische Disziplin zu stellen. Die Wirklichkeit aber in den Text hineinzukriegen, das bedeutet für Dorothee Elmiger immer die Gefahr, „die Dinge tippend totzumachen“ und „erzählend eine Ordnung zu behaupten, wo keine Ordnung ist.“

Poetik der Tragetasche

Auf der Suche nach einer anderen Form der Erzählung fand Elmiger den 1986 erschienenen Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“ der Sci-Fi-Autorin Ursula Le Guin. Für Le Guin, sagte Elmiger, sei nicht das Filetierbesteck das geeignete Werkzeug der Erzählung, sondern die einfache Tasche, mit der sich Gesammeltes nach Hause tragen lässt: „Vögel, Laub, Plastiktüten, Haare des Hundes, Steine, die das blöde Nachbarskind meist daneben wirft, aber manchmal auch zielsicher in den Text hinein.“

Diese Erzählhaltung des Sammelns, die die Dinge nicht aufspießt, zerlegt und einer widerspruchsfreien Erzählung unterordnet, erklärte sie mit einem Auszug aus ihrem Buch „Aus der Zuckerfabrik“ wie folgt: „Es ist doch ganz einfach so, dass immer alles Mögliche geschieht, während ich da an meinem Schreibtisch sitze, ich höre die Stimmen der Leute auf dem Flur, wie sie aus der Mittagspause zurückkehren, und draußen fährt ein doppelstöckiger Intercity aus der Stadt hinaus, Leute in orangen Westen gehen mit Zollstöcken auf dem Dach des Nachbargebäudes umher, und jemand schickt mir eine Nachricht aus Antigua Guatemala, und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht, also die Verhältnisse, in denen ich schreibe.“

Behelfsmäßiges Ausprobieren

Im zweiten Teil des Abends holte Dorothe Elmiger ihren Gast, dem Dramatiker und Hörspielautor Wolfram Lotz ins Blickfeld der Webcam. Lotz und Elmiger sind seit einiger Zeit im Austausch über das Schreiben und seine Bedingungen. Während ihres Gesprächs trugen die beiden im Wechsel kurze, aphoristische Textschnipsel aus eigenen Arbeiten vor, die das Verhältnis von Fiktion und Realität umkreisten.

So ging es um ein Buschwindröschen, das vom Jäger erst vor Fraßfeinden gerettet und dann achtlos zertreten wird, um eine Herde Ziegen, die mit ihren zudringlichen Zungen ein Mädchen mit Streichelabsicht zum Weinen bringt, um das versehentliche Selfie, das vielleicht die realsten Bilder liefert, um den Unterschied zwischen „soft eyes“ (peripheres Sehen) und „hard eyes“ (fokussiertes Sehen). Es ging um 27 Arten von Schnee, um literaturunwürdige Stellen, von denen die Welt so voll ist, und um das Gefühl, als Tourist nichts gesehen zu haben.

Die Welt: kein einziger großer Briefkasten mit verschlüsselten Botschaften

Was bedeuten die Dächer von Bergen-Enkheim? Nicht alles müsse ein Zeichen sein, empfiehlt Wolfram Lotz der Gastprofessorin, die derzeit Stadtschreiberin in dem Frankfurter Stadtteil ist.

Was bedeuten die Dächer von Bergen-Enkheim? Nicht alles müsse ein Zeichen sein, empfiehlt Wolfram Lotz der Gastprofessorin, die derzeit Stadtschreiberin in dem Frankfurter Stadtteil ist.
Bildquelle: Privat

Wo die Theorie der Wahrnehmung nicht weiterhalf, zeigten Lotz und Elmiger Fotos von Realien: der Blick aus dem Fenster in Frankfurt-Bergen-Enkheim, wo Dorothee Elmiger in diesem Jahr Stadtschreiberin ist.

Während die Autorin ihr Unvermögen gestand, eine solche Ansicht adäquat zu beschreiben, vermutete Wolfram Lotz, dass eine Ansammlung von Giebeln und Häuserrückseiten „nicht dafür da ist, Bedeutung abzugeben“. Die Welt ist kein einziger großer Briefkasten mit verschlüsselten Botschaften, alle extra für uns angelegt.

Letztlich blieb die Frage, wie sich die überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens abbilden und Worte an die Dinge zu legen lassen, ohne ihre Komplexität zu reduzieren. Das könne immer nur behelfsmäßig ausprobiert werden, sagte die Autorin. Und indem sie auf die Tiere in der Metzgerei zurückkommt, bemerkte sie: „Sie haben übrigens Augen und Ohren. Ich kriege sie eh nicht zu fassen.“