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Zwischen Mut und Demut liegt Xin Da Ya

Treue zum Original, Ausdruckskraft und Eleganz – Karin Betz hat ihre Antrittsvorlesung als Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung gehalten

17.11.2021

Karin Betz hat Werke des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, des Exil-Schriftstellers Liao Yiwu und des bekannten Kung-Fu-Romanautors Jin Yong ins Deutsche übertragen.

Karin Betz hat Werke des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, des Exil-Schriftstellers Liao Yiwu und des bekannten Kung-Fu-Romanautors Jin Yong ins Deutsche übertragen.
Bildquelle: Tobias Bohm

„Wo bitte geht’s nach Xin Da Ya?“ lautete der Titel von Karin Betz‘ Antrittsvorlesung als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung. Xin Da Ya ist kein Ort auf einer Landkarte, sondern bezeichnet die drei Prinzipien guter Übersetzung, die der chinesische Gelehrte Yan Fu Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat: Treue zum Original, Ausdruckskraft und Eleganz – drei Ziele, die nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind.

Bisher nur ein Bruchteil chinesischer Literatur ins Deutsche übersetzt

Die Herausforderung ist umso größer, wenn die Ursprungs- und Zielsprache so weit auseinanderliegen, wie es beim Chinesischen und Deutschen der Fall ist. Daher ist vielleicht nicht verwunderlich, dass bislang nur ein Bruchteil der chinesischen Literatur auf Deutsch erhältlich ist. Karin Betz hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, das zu ändern, und unter anderem Werke des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, des Exil-Schriftstellers Liao Yiwu und des bekannten Kung-Fu-Romanautors Jin Yong ins Deutsche übertragen.

Sie ist die erste Übersetzerin aus einer asiatischen Sprache, die die am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften eingerichtete Gastprofessur für Poetik der Übersetzung innehat. Ins Leben gerufen wurde die Professur 2007, seitdem kommen jedes Jahr herausragende Praktikerinnen und Praktiker des Übersetzungshandwerks an die Freie Universität Berlin.

Karin Betz (Mitte) mit Susanne Strätling (links), Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, und Ulrich Blumenbach (rechts), Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds

Karin Betz (Mitte) mit Susanne Strätling (links), Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, und Ulrich Blumenbach (rechts), Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds
Bildquelle: Tobias Bohm

Wie schwierig ihre Arbeit ist, macht Karin Betz anschaulich an einem „fatal chinesischen Begriff“, der womöglich unübersetzbar sei: Jianghu (江湖), wörtlich „Fluss und See“. Auch bei der Bedeutung von Jianghu hilft eine Landkarte nicht weiter. Der Ausdruck ist so alt wie die chinesische Kulturgeschichte lang. Er findet sich bereits vor mehr als 2000 Jahren in den Daoismus-Schriften von Zhuangzi und beim berühmten Historiker Sima Qian. Seitdem habe er sich zu einem Kulturbegriff entwickelt, der weit über die wörtliche Bedeutung hinausgehe, erzählt Karin Betz.

Oft ist Jianghu ein Sehnsuchtsort, gar ein „verführerischer Ort der Glückseligkeit“, der für Freiheit und Ungebundenheit steht. Du Fu und Li Bai, zwei klassische Dichter der Tang-Zeit (617-907), verbinden Fluss und See mit Trauer und Wehmut. In jüngerer Zeit ist Jianghu besonders als die wilde und freie Welt der Kampfkünste im Kung-Fu-Roman bekannt. Zu diesem populären Genre zählt Jin Yongs Legende der Adlerkrieger, das auch als der „chinesische Herr der Ringe“ gilt und eine von Karin Betz‘ jüngsten Übersetzungen ins Deutsche ist.

Eine politisch subversive Bedeutungsebene schwingt mit

Bei der Beschäftigung mit Liao Yiwu sei ihr zum ersten Mal bewusst geworden, wie schwer der Begriff Jianghu adäquat ins Deutsche zu übertragen sei, erinnert sich Karin Betz. Der mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Schriftsteller lebt in Berlin im Exil. In seinem Roman Die Wiedergeburt der Ameisen, den Karin Betz übersetzt hat, verarbeitet er die traumatischen Jahre, die er nach der Niederschlagung der Tian’anmen-Proteste 1989 im Gefängnis verbracht hat. Jianghu kommt darin immer wieder vor, oft als Bezeichnung für eine von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossenen, vielleicht auch rebellischen Gesellschaftsgruppe, der sich Liao Yiwu zugehörig fühlt.

Der Begriff lässt so auch eine politisch subversive Bedeutungsebene mitschwingen. „Lange habe ich herumprobiert, bis ‚Fluss und See‘ in meiner Übersetzung der Wiedergeburt der Ameisen schließlich zu ‚Geächteten‘ wurde“, sagt Karin Betz. „Vielleicht würde ich den Begriff Jianghu heute stehen lassen. Aber auf dem Weg nach Xin Da Ya fehlte mir damals noch der Mut.“

Was Eleganz (雅 Ya) in der Sprache ausmache, habe auch mit der Intention hinter der Übersetzung zu tun, erläuterte Karin Betz in ihrem Vortrag.

Was Eleganz (雅 Ya) in der Sprache ausmache, habe auch mit der Intention hinter der Übersetzung zu tun, erläuterte Karin Betz in ihrem Vortrag.
Bildquelle: Tobias Bohm

Die Prinzipien von Xin Da Ya, führt Karin Betz aus, gelten als genuin chinesische Übersetzungstheorie. Doch die Spannung zwischen Treue (信Xin) zum Original und Ausdrucksstärke (达 Da) finde sich ebenso im unter Übersetzern bekannten Diktum „so treu wie möglich, so frei wie nötig“.

Was Eleganz (雅 Ya) in der Sprache ausmache, ist wiederum nicht nur eine Frage des Stils, sondern hat auch mit der Intention hinter der Übersetzung zu tun: Der Urheber der Xin-Da-Ya-Theorie Yan Fu übersetzte Werke des westlichen Liberalismus wie John Stuart Mills Ethik und Thomas Huxleys Version von Darwins Evolutionstheorie deshalb in das altertümliche klassische Chinesisch, um möglichst die chinesische Gelehrtenklasse zu beeinflussen – vielleicht nicht unähnlich den chinesischen Klassikern, die, von europäischen Aufklärern wie Leibniz mit Begeisterung rezipiert, zunächst ins Lateinische übersetzt wurden.

Keine Klischees bedienen und kulturelle Referenzen verständlich machen

Was eine gute Übersetzung ausmacht, hängt somit auch vom politischen Kontext ab. Keine Klischees zu bedienen und kulturelle Referenzen verständlich zu machen, sind weitere Herausforderungen interkultureller Übersetzungsarbeit. Xin Da Ya klinge nach einem Wunschort – wie Jianghu, sagt Karin Betz. „Ich weiß nicht, wo Xin Da Ya liegt“, schließt die Gastprofessorin ihren Vortrag. „Irgendwo zwischen Mut und Demut, in der Wandlungsfähigkeit, irgendwo im Wasser?“ Sie fügt schmunzelnd hinzu: „Um doch den Orientalismus in der Erwartungshaltung des Publikums zu bedienen: Der Weg ist das Ziel.“

Weitere Informationen

Die öffentliche Antrittsvorlesung von Karin Betz am 1. November 2021 im Institut français Berlin ist auf der Webseite des Deutschen Übersetzerfonds noch bis 10. Dezember 2021 als Video-Aufzeichnung verfügbar.

Die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung wurde 2007 gemeinsam vom Deutschen Übersetzerfonds und der Freien Universität Berlin ins Leben gerufen. Herausragende Vertreterinnen und Vertreter ihres Fachs lehren für ein Semester am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität.