Für ein dekolonisiertes Verständnis von Zeit
In der zweiten „Berlin Southern Theory Lecture“ erkundete die indische Historikerin Prathama Banerjee zeittheoretische Entwürfe aus Südasien
04.02.2021
Die westliche Geschichtsschreibung ist es gewohnt, Abfolgen von ‚früher‘ und ,später‘ zu entwerfen. Diesem Geschichtsverständnis liegt ein Zeitmodell zugrunde, das linear und gleichmäßig getaktet in die Zukunft voranschreitet – wobei der neuzeitliche Westen lange meinte, auf diesem Weg schon etwas weiter zu sein als andere Regionen der Welt.
Spätestens jedoch seitdem sich die neuzeitlich-westliche Auffassung von Zeit mit ihrem eurozentrischen Begriff von Geschichte im Rahmen postkolonialer Diskussionen mit anderen Verständnissen von Zeit und historischem Wandel konfrontiert sieht, wird deutlich, wie problematisch dieses Zeitverständnis ist.
In Abgrenzung und Opposition zur Hegemonie eurozentrischer Weltdeutung arbeiten vor allem Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen aus dem „globalen Süden“ verstärkt daran, eine Vielzahl historischer Akteure als legitim anzuerkennen – und beispielsweise Kolonialgeschichte nicht auf die Perspektive der Kolonisierenden zu reduzieren.
Die gemeinsam vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität und dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) initiierte Vortragsreihe „Berlin Southern Theory Lecture“ möchte dieser Forderung nach verschiedenen Perspektiven, nach vielen Stimmen, nach alternativen Lesarten eine prominente Bühne geben. Die jährliche Vorlesung, die Denkerinnen und Denker aus dem globalen Süden nach Berlin bringt, soll zu einem weltweiten Wissensaustausch beitragen, um eurozentrische Deutungsmuster zu überwinden.
Wegen der Corona-Pandemie fand der Vortrag im vergangenen Dezember online statt. Mehr als 120 Zuhörerinnen und Zuhörer schalteten sich nicht nur aus Berlin dazu, sondern auch aus Ost- und Südafrika, Südasien und Nordamerika.
Postkoloniale Geistes- und Sozialwissenschaft
Prathama Banerjee, per Videokonferenz aus Neu-Delhi zugeschaltet, war die zweite Rednerin der „Berlin Southern Theory Lecture“. Die Historikerin arbeitet am Centre for the Study of Developing Societies in Neu-Delhi seit Jahren an einer grundsätzlichen Neuorientierung für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Ihr gehe es vor allem darum, die reichhaltigen Denktraditionen Südasiens (etwa etablierte Leitbegriffe in Hindi, Bengali und Sanskrit) für die Bildung einer dekolonisierten Sozialtheorie zu nutzen, sagte Professor Kai Kresse, Ko-Organisator dieses Events, in seiner Einführung.
Weitere lokal geprägte Deutungsmuster zu re-etablieren war auch Gegenstand von Prathama Banerjees Vortrag mit dem Titel „Time and the Limits of the Political: Anti-historical Excursions from South Asia“. In dessen Mittelpunkt stand eine grundlegende Kategorie des menschlichen Erlebens, aber auch der Geschichtsschreibung: Zeit.
Die Historikerin stellte nicht nur das europäisch-neuzeitliche Verständnis von Zeit, das sich in den vergangenen 200 Jahren herausgebildet hat, zur Debatte. Sie erläuterte auch ein breites Spektrum südasiatischer Zeitkonzeptionen, um zusätzliche zeittheoretische Entwürfe auszuloten. Dabei bewegte sie sich frei zwischen hinduistischen, buddhistischen und islamischen Mythologien, Chronologien und Philosophien aus verschiedenen Epochen.
Zunächst wandte sich Prathama Banerjee gegen die übliche Periodisierung in Antike, Mittelalter und Neuzeit, die sie als europäische Besonderheit betrachtet. Sie argumentierte aber auch gegen das evolutionäre und an einer Vorstellung von Fortschritt orientierte Zeitmodell der Weltgeschichte. Sogar die Disziplin der Geschichtsschreibung selbst könne zum Instrument westlicher Hegemonie werden, sagte die Historikerin.
Denn der europäisch-neuzeitliche Modus von Zeit und Geschichte blende andere – etwa mythische – Zugänge zur Vergangenheit aus und habe dazu beigetragen, andere Zeittheorien zu verdrängen. Letztlich negiere die westliche Moderne nicht nur die Zukunftsorientiertheit anderer Kulturen und Gesellschaften, sondern auch deren Eigenständigkeit, Entscheidungen nach eigenen Prämissen zu treffen.
Zeit als politisches Konzept
Prathama Banerjee kritisierte darüber hinaus die übergreifende und vereinheitlichende Tendenz der modernen Zeitgliederung, die außereuropäische Zeitkulturen zu einer Art temporaler Entfremdung zwingt oder sie gleich ganz zum Verschwinden bringt:
„Wir vergessen oft, dass Gesellschaften in sogenannten vormodernen Zeiten routinemäßig mit mehreren Chronologien und mehreren Kalendern funktionierten, je nach Art der unternommenen Aktivität: rituell, politisch, agrarisch und so weiter. Die westliche Moderne dagegen unterwarf die ganze Welt einem einzigen Kalender. In der Folge entstand eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben, zwischen Politik und Religion. Denn fortan ging man davon aus, dass die kolonisierten Völker ihre religiösen und rituellen Aktivitäten gemäß ihren traditionellen Kalendern abwickeln würden, während sie sich für das öffentliche Leben, also Arbeit und Politik, auf der ganzen Welt nach dem Gregorianischen Kalender richten würden.“
Zeit, argumentierte Prathama Banerjee weiter, sei nicht erst in jüngster Zeit zu einem politischen Konzept geworden. Auch davor habe sie im Dienst politischer Auseinandersetzung gestanden – etwa wenn antikoloniale Denkerinnen und Denker im 19. und 20. Jahrhundert traditionelle Zeitdiskurse gegen (politische oder andere) Rivalen in Stellung brachten.
Als Beispiel nannte Prathama Banerjee den indischen Nationalhelden Bhimrao Ambedkar. In den 1950er Jahren kämpfte Ambedkar, inspiriert von buddhistischen Traditionen, für die Befreiung der „unberührbaren“ Kasten und führte in seinen Schriften die Notwendigkeit gegenseitiger sozialer Verantwortung vor Augen. Grundlage dafür war die buddhistische Lehre der Zeit, nach der jegliches Dasein auf einer Reihe punktueller, sich abwechselnder Augenblicke beruht, in denen alles Existierende vergeht und neu entsteht. Die scheinbare Kontinuität der Welt ist dieser Auffassung zufolge nichts weiter als eine Illusion. Unter die Vergänglichkeit der Dinge fällt dann nicht nur ihr restloses Vergehen, sondern auch, dass sie sich ständig von Augenblick zu Augenblick wandelt und verändert.
Diese Lehre von der Augenblicklichkeit alles Seienden übertrug Ambedkar auf das indische Kastenwesen, um so dem Glauben an ein Kasten-Selbst, an eine bei Geburt festgelegte Kasten-Identität den Boden zu entziehen. „Weil nach Ambedkar das Selbst keinen beharrenden Kern hat, keine Essenz oder substantielles Wesen, ist alles, was von der Welt bleibt, eine Ethik gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortung, in der wir uns die Folgen unseres Handelns für andere zu eigen machen“, sagte Prathama Banerjee.
Re-Etablierung von lokalen Zeitkulturen
Auch die kosmologische Idee von den vier Weltzeitaltern (yuga) habe politischen Zwecken gedient. Nach hinduistischer Auffassung beginne die Welt in einem vollkommenen Zustand und verschlechtere sich allmählich, bis sie am Ende durch göttlichen Eingriff wiederhergestellt wird und der Verfall von Neuem beginnt.
Im vierten und letzten Zeitalter dieses Zyklus, in dem wir nach hinduistischer Auffassung gegenwärtig leben, erreiche der moralische Zerfall seinen Höhepunkt: Selbst „Unberührbare“ und „sogar“ Frauen könnten im Zeitalter des bevorstehenden Weltuntergangs zu Macht gelangen. Diese endzeitliche Vorstellung von der Umkehrung aller Dinge habe im 19. Jahrhundert eine Reihe von Volksaufständen gegen die Kolonialherrschaft inspiriert, sagte Prathama Banerjee.
„Southern Theory“, schließt Prathama Banerjee ihren Vortrag, „hat die Aufgabe, diese verlorenen und vergangenen Einsichten wiederzufinden und sie für unsere Gegenwart nutzbar zu machen.“ So gelinge es, die neuzeitliche Entfremdung zwischen Öffentlichem und Privatem, Politischem und Religiösem zu überwinden – auch wenn es dafür nötig sei, viele miteinander konkurrierende und zum Teil sich ausschließende Zeitkonzeptionen nebeneinander gelten zu lassen.
In die lebhafte und vielstimmige Diskussion im Anschluss an die Lecture führte Abdulkader Tayob ein, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Kapstadt und aktuell Georg-Forster-Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung am ZMO. Hansjörg Dilger, Professor am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität, moderierte die Diskussion, an der Fragestellende von vier Kontinenten aktiv teilnahmen. Die Diskussion reflektierte ein hohes Interesse an der Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen und intellektuellen Traditionen aus dem sogenannten globalen Süden – und an einer Fortsetzung der Berlin Southern Theory Lecture im kommenden Jahr.
Weitere Informationen
Prathama Banerjees Vorlesung können Sie hier nachhören.