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Frauendomäne Mathematik?

Ein Gespräch mit den Doktorandinnen Anna Maria Hartkopf und Hannah Sjöberg und ihrem Betreuer, Mathematikprofessor und Universitätspräsident Günter M. Ziegler

16.10.2020

Doktorvater und erfolgreiche Absolventin: Mathematikprofessor Günter M. Ziegler hat die Promotion von Anna Maria Hartkopf betreut.

Doktorvater und erfolgreiche Absolventin: Mathematikprofessor Günter M. Ziegler hat die Promotion von Anna Maria Hartkopf betreut.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

An der Freien Universität Berlin hat die Geometrie ein besonderes Zuhause: das historische Vorstadthaus der Arbeitsgruppe „Diskrete Geometrie“ in Dahlem. Hannah Sjöberg beschreibt die Betreuerinnen, Betreuer und Kollegen in der Danksagung ihrer Dissertation als „Familie“, „die Villa“ – so der Kosename – als „inspirierende Arbeitsumgebung“. Dienstagnachmittags gibt es „Discre-Tea“, donnerstags ein gemeinsames Colloquium. Und noch etwas ist außergewöhnlich an der Arnimallee 2: Genau die Hälfte der Promovierenden und Postdocs ist weiblich. Doch wie frauenfreundlich ist die Mathematik grundsätzlich?

Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität, sagt über sich: „Ich bin tief in meinem Herzen Geometer.“ Er leitet die AG „Diskrete Geometrie“, vertreten wird er, seit er das Präsidentenamt im Juli 2018 angetreten hat, von Mathematikprofessor Rainer Sinn.

„Wir suchen nicht explizit nach Wissenschaftlerinnen, wenn wir Stipendien oder Stellen vergeben“, sagt Ziegler, „sondern nach Menschen mit Talent oder interessantem Lebenslauf – eine Frauenquote wäre hier gar nicht nötig.“ Zwei Doktorandinnen mit diesen Attributen hat er über seinen Amtsantritt als Universitätspräsident hinaus betreut: Anna Maria Hartkopf und Hannah Sjöberg. „Ich finde es großartig, dass in meiner AG sehr unterschiedliche Menschen über ein gemeinsames Thema zusammenkommen – nicht nur bezüglich des Geschlechts, sondern auch mit Blick auf Kulturen, Sprachen und Lebensläufe.“

Anna Maria Hartkopf, die ihre Promotion inzwischen abgeschlossen hat, zieht Bilanz: „Ich fand es sehr angenehm, ein Büro mit zwei Frauen zu teilen. Das war über die Jahre hinweg ein Raum, in dem wir offen miteinander reden konnten.“ Traditionell sei die Mathematik in der Gesellschaft immer noch als „maskulines Fach“ konnotiert. Rationales, logisches Denken werde leider häufig allein Männern zugeschrieben.

„Geometrie und Algebra sind spannende, aber auch schwere Gebiete“, sagt Günter M. Ziegler. Während männliche Kollegen die Tendenz hätten, sich vieles selbstbewusst zuzutrauen, träten Frauen – meist völlig unbegründet – eher zurückhaltend auf. „Aber Hannah Sjöberg und Anna Maria Hartkopf, die beide Ende September ihre Dissertationen erfolgreich verteidigt haben, zeigen wieder einmal, dass mathematisches Verständnis mit dem Geschlecht überhaupt nichts zu tun hat“, sagt ihr Mentor.

Hannah Sjöberg hat Ende September ihre Promotion in Mathematik abgeschlossen.

Hannah Sjöberg hat Ende September ihre Promotion in Mathematik abgeschlossen.
Bildquelle: Alina Magdalena

Positive Atmosphäre

Beide Frauen erinnern sich an Situationen in Lerngruppen im Mathematikstudium, in denen Studentinnen zugegeben haben, etwas nicht ganz verstanden zu haben – während ihre männlichen Kommilitonen voller Stolz ihre bisweilen oberflächlichen Kenntnisse anbrachten. „Sie haben ihr Halbwissen als Wissen präsentiert, während ich mein Halbwissen als Unwissen wahrgenommen habe – unsere jeweiligen Noten in den Klausuren haben dann oft genau das Gegenteil bewiesen“, sagt Anna Maria Hartkopf. „Die Atmosphäre in unserer Villa ist dagegen sehr unterstützend und positiv“, findet Hannah Sjöberg.

Günter M. Ziegler ist einer der Gründungsväter der Berlin Mathematical School (BMS), der gemeinsamen Mathematik-Graduiertenschule der drei großen Berliner Universitäten, die auch Stipendiatinnen in der Arbeitsgruppe „Diskrete Geometrie“ fördert: Im Rahmen der Sonia Kovalevskaya Colloquia, einem speziellen Frauenprogramm der BMS, halten herausragende Wissenschaftlerinnen Vorträge und unterstützen Studentinnen beim Netzwerken.

Auch am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität werden Studentinnen auf besondere Weise unterstützt: Es gibt dort nicht nur eine Frauenbeauftragte, sondern auch eine Frauenförderkommission. „In unserer AG sind alle für diskriminierende Situationen sensibilisiert“, hebt Hannah Sjöberg hervor.

Leitfigur Emmy Noether

Dass in Deutschland Mathematik (noch) kein Frauenfach ist – anders als in manchen osteuropäischen Ländern – sei ein historisch begründetes Problem, dem man aktiv etwas entgegensetzen müsse, sagt Anna Maria Hartkopf.

„Man darf sich von der Mathematikgeschichte nicht täuschen lassen, auch wenn dort bis zum 20. Jahrhundert kaum Frauen auftauchen“, betont Günter M. Ziegler. „Wie hätten sie in dieser Wissenschaft Besonderes leisten können, wenn man sie nicht einmal studieren ließ?“

Dennoch gibt es historische Leitfiguren wie etwa Emmy Noether: Als erste Mathematikerin in Deutschland habilitierte sie sich im dritten Anlauf 1919 – nachdem endlich das Universitätsrecht geändert worden war und damit Habilitationen von Frauen möglich wurden. Obwohl manche Mathematiker nur nach Göttingen kamen, um bei Noether zu studieren, erhielt die Wissenschaftlerin erst mit 41 Jahren ein Gehalt für ihre Lehrtätigkeit, einen Lehrstuhl allerdings nie.

Längst gilt Emmy Noether als Begründerin der modernen strukturellen Algebra. „Sie hat so fundamentale Dinge entwickelt, das ist großartig“, unterstreicht Günter M. Ziegler, „sie ist eine der bedeutendsten Mathematikerinnen des 20. Jahrhunderts.“ Er hält kurz inne und verbessert sich: „Nein, generell eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Mathematik, hier muss man wirklich nicht nach Geschlecht differenzieren.“

Multiplikatorinnen

Vorbildfunktion habe auch Hélène Esnault, sagt der Universitätspräsident. Die erst kürzlich emeritierte Zahlentheoretikerin, die von 2012 an als Einstein-Professorin an der Freien Universität lehrte, ist Leibniz-Preisträgerin und wurde mit der Cantor-Medaille der Deutschen Mathematiker-Vereinigung ausgezeichnet. „Die Kollegin hat zahlreiche Doktorandinnen betreut, was wieder einmal zeigt, dass Institutionen mit erfolgreichen Frauen weitere Frauen mit viel Potenzial anziehen.“

„Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs ‚Diskretisierung in Geometrie und Dynamik‘, der mit unserer AG assoziiert ist, gab es im vergangenen Jahr eine Paneldiskussion zum Thema ‚Wo sind unsere Mathematikprofessorinnen?‘“, erzählt Anna Maria Hartkopf. Sie habe dabei mit Nalini Joshi gesprochen, Vizepräsidentin der International Mathematical Union und Lehrstuhlinhaberin für Angewandte Mathematik an der Universität Sydney.

Nalini Joshi habe es doppelt schwer gehabt als Frau mit Migrationshintergrund, sagt Anna Maria Hartkopf. „Sie ist ein Beispiel dafür, wie man durch Hindernisse stark werden kann. Das wirkt als Vorbild, ja, aber man denkt sich auch: Was ist denn, wenn ich zwar Talent, aber selbst nicht so viel Durchsetzungskraft habe?“

Strukturen verbessern

Wie also sieht es im Deutschland des 21. Jahrhunderts aus? Stehen die Türen offen für mehr Frauen in der Mathematik? Günter M. Ziegler zufolge sind die Strukturen zwar „sehr gut“, „Verbesserungspotenzial gibt es dennoch“. „Wir haben leider immer noch einen sogenannten Leaky-Pipeline-Effekt.“ Das Phänomen der „tropfenden Leitung“ bedeutet, dass zwar vergleichsweise viele Frauen ein Studium aufnehmen, deren Anteil aber abnimmt, je höher es auf der Karriereleiter geht.

Ein Drittel der Studierenden an der BMS sind Frauen, „angestrebt werden 50 Prozent“, sagt Ziegler. Deutschlandweit sei die Anzahl der Mathematikprofessorinnen in den vergangenen Jahren von 12 auf 15 Prozent gestiegen: „Diese Entwicklung ist gut, aber sicherlich noch nicht beeindruckend.“ Am Institut für Mathematik der Freien Universität lehren sechs weibliche und 24 männliche Professoren – immerhin ein Frauenanteil von 20 Prozent.

Hannah Sjöberg begründet das Phänomen der niedrigen Quote vor allem mit den häufigen Wohnortwechseln, die eine akademische Laufbahn in den Postdoc-Jahren mit sich bringt. „Frauen ziehen eher mit ihren Ehemännern ins Ausland, von umgekehrten Fällen hört man selten.“

„Das Thema Familie fällt Akademikerinnen oft auf die Füße“, kritisiert auch Anna Maria Hartkopf. Tenure Tracks, wie sie vor allem in den USA immer üblicher werden, sieht Hannah Sjöberg als Lösungsidee: Nach einer befristeten Bewährungszeit erhalten junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Lebenszeitprofessur, bereits während der Vorbereitungsjahre sind sie durchgängig an derselben Hochschule. „So hätte man viel mehr Sicherheit und Stabilität.“ Sie selbst konzentriert sich auf die freie Wirtschaft und sucht dort nach einer Stelle im Bereich Data Science.

Gerade und ungerade Laufbahnen

Die in Berlin geborene Schwedin Hannah Sjöberg hat in Linköping, Istanbul und Berlin studiert, direkt nach dem Master begann die 30-jährige ihre Promotion an der Freien Universität. Sie forscht zu den kombinatorischen Eigenschaften von höherdimensionalen Polytopen, also geometrischen Objekten, die durch gerade Flächen und Kanten begrenzt sind.

Anna Maria Hartkopf war nach einem Diplom in Mathematik zunächst für eine künstlerische Mathematikausstellung und als Gesamtschullehrerin tätig.

Eben diese didaktischen Erfahrungen empfand sie als nützlich für ihre Arbeit als Doktorandin der Wissenschaftskommunikation: Im Rahmen ihres Projekts Polytopia können Schülerinnen und Schüler Vielflächner „adoptieren“, benennen, ausdrucken und basteln: „Viele Kinder denken, dass ‚Mathe schon fertig ist‘“, sagt die Mittdreißigerin und lacht. „Wir möchten zeigen, dass es Mathematikerinnen und Mathematiker an der Uni gibt, die immer wieder Neues herausfinden und dass auch Kinder selbst etwas beitragen können.“

Die gebürtige Neusserin will an der Freien Universität bleiben. Gemeinsam mit Günter M. Ziegler bereitet sie ein neues Großprojekt vor: ein experimentelles Forschungslabor zur kreativen Kommunikation von Mathematik, Informatik und Physik. Diese Wissenschaften seien als „harte Fächer“ bekannt, sagt Anna Maria Hartkopf – weil sie nicht nur als schwer wahrgenommen werden, sondern auch als schwer vermittelbar. „Aber wenn wir ihre Inhalte originell kommunizieren, können wir diese Berührungsängste abbauen.“

Weitere Informationen

Berlin Mathematical School

Für die Aufnahme in die gemeinsame Mathematik-Graduiertenschule der Freien Universität, Humboldt-Universität und Technischen Universität im Jahr 2021 werden Bewerbungen über dieses Portal angenommen. Die Frist für die erste Runde endet am 1. Dezember 2020.