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Kontroversen und Dialoge: Poetische Kritik und politische Literatur

In diesem Sommer richtet die Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien drei große Veranstaltungen aus / Bewerbungen für die Summer School bis 2. April

26.03.2019

Die Revolution von 1848 erschütterte viele Regionen in Deutschland. Barrikadenkämpfe in Berlin forderten am 18. März mehr als 250 Menschenleben. Den Autoren des Vormärz war die politische Lyrik die literarische Waffe im Kampf gegen die Restauration.

Die Revolution von 1848 erschütterte viele Regionen in Deutschland. Barrikadenkämpfe in Berlin forderten am 18. März mehr als 250 Menschenleben. Den Autoren des Vormärz war die politische Lyrik die literarische Waffe im Kampf gegen die Restauration.
Bildquelle: Gbi.bytos, WikipediaCreative-Commons-Lizenz

„Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied / Ein leidig Lied!“ – so beendet in Goethes Faust (1808) der angetrunkene Brandner eine sich anbahnende Wirtshausdiskussion über das Ende des Heiligen Römischen Reichs. Poesie und Politik – das legt dieses oft im Sinne der Kunstautonomie verstandene Zitat nahe – scheinen in der Weimarer Klassik unvereinbare Sphären gewesen zu sein, die nur um den Preis des guten Geschmacks miteinander in Verbindung gebracht werden konnten. Für den Vormärz-Lyriker August Heinrich Hoffmann von Fallersleben dagegen war in den 1840er Jahren allein die politische Literatur von Relevanz. Im Rückgriff auf den Brandner-Ausruf führt er in seinem Gedicht „Lied aus meiner Zeit“ (1840) die veränderte historische Lage vor:

Ein politisch Lied, ein garstig Lied,

so dachten die Dichter mit Goethen (…)

Da rief mir zu das Vaterland,

Du sollst das Alte lassen (…)

Und wer nicht die Kunst in unserer Zeit

Weiß gegen die Zeit zu richten,

Der werde nun endlich bei Zeiten gescheit

Und lasse lieber das Dichten!


Hoffmann von Fallersleben ergreift Partei für eine politische Poesie – und schreibt damit gegen die seinerzeit vorherrschende Anschauung von der Unvereinbarkeit von Politik und Poesie an.

Summer School „The Politics of Literature – Literature and Politics”

Im Rahmen der diesjährigen, nunmehr dritten Summer School der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, die in Kooperation mit dem Exzellenzcluster 2020 „Temporal Communities“ stattfindet, werden unter dem Titel „The Politics of Literature – Literature and Politics“ die unterschiedlichsten Verflechtungen von Literatur und Politik thematisiert. Vom 1. bis 4. Juli 2019 sind Doktoranden, Postdoktoranden und fortgeschrittene Master-Studierende der Philologien und anderer Geisteswissenschaften eingeladen, der Frage nachzugehen, wie sich der literaturwissenschaftliche Zugriff auf politische Literatur neu reflektieren lässt.

Das werde auch mit Blick auf die aktuellen Bewegungen in der Weltordnung geschehen, sagt Pavlos Dimitriadis, Mitorganisator der Summer School und Doktorand der Graduiertenschule: „Es versteht sich von selbst, dass das Interesse an der politischen Dimension literarischen Schreibens immer dann Konjunktur hat, wenn die realweltliche politische Situation das Bedürfnis nach wie auch immer gearteter Partizipation und Intervention herausfordert.”

Das weltweite Wiedererstarken von Nationalismus kann ein solcher Anlass sein. Wie also reagiert Literatur auf das Politische? Wie wird Literatur selbst zu einem Politikum? Mithilfe welcher literarischen Verfahren lässt sich politisch Stellung beziehen? „Wir haben eine Reihe von international ausgewiesenen Expertinnen und Experten gewinnen können, um diese Fragen in einem transkulturellen Dialog und in Hinsicht auf aktuelle wie historische Kontexte ästhetischer Kritik zu diskutieren“, sagt die Philosophieprofessorin Anne Eusterschulte, die das Organisationsteam, bestehend aus Promovierenden der Schlegel-Schule, konzeptuell betreut.

Pavlos Dimitriadis ergänzt: „Unsere Workshop-Struktur ermöglicht es uns, die einzelnen Untersuchungsfelder dieses großen Komplexes so zu strukturieren, dass das Verhältnis von Literatur und Politik aus verschiedenen Perspektiven erarbeitet werden kann. Und in fast allen Fällen werden wir uns ganz konkreten politischen Zusammenhängen zuwenden.“ Betrachtet werden etwa der Vormärz, die Achtundsechziger-Bewegung, die Occupy-Wall-Street-Initiativen, die Gezi-Park-Proteste oder die Rolle von Literatur im sogenannten Arabischen Frühling.

Reading Group „Engagement“

Weil Literatur die Wahrnehmung von Welt verändern und dadurch politisch werden kann, ohne im engeren Sinn von Politik zu handeln, möchten Dimitriadis und das Organisationsteam „die Wechselwirkungen zwischen Literatur und politischen Handlungen im weitesten Sinne thematisieren“.

Weil dies zunächst eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand erfordert, veranstaltet die Graduiertenschule im Vorfeld der Summer School in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vom 24. bis 27. Juni 2019 eine Reading Group in Leipzig. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konzentrieren sich in einem ersten Schritt auf die Re-Lektüre und Diskussion einschlägiger literaturtheoretischer Texte, die vor allem – aber nicht nur – den westlichen Diskurs rund um den Themenkreis des Engagements im 20. Jahrhundert bestimmt haben. In einem nächsten Schritt solle es dann über diese Theorieansätze „vornehmlich männlich-weißer“ Autoren hinausgehen, wie Pavlos Dimitriadis sagt: „Wenn es uns gelingt, jene Ansätze, wie sie etwa mit Adornos Engagement-Aufsatz oder Sartres littérature engagée gegeben sind, kritisch neu zu lesen und mit aktuellen Debatten aus transkultureller Perspektive zu konfrontieren, wäre das bereits ein Erfolg.“

Die eingangs zitierte Entgegensetzung von autonomer und politischer Literatur sei „natürlich längst historisch. Historisch bedeutet dabei nicht passé, sondern in einer Kontinuität begriffen: Das zugrundeliegende Problem kehrt unter den verschiedensten Prämissen wieder und regt zu ständiger Neubewertung an.“ Es lasse sich also die Frage stellen, ob dieser Gegensatz in aktuellen Debatten nicht noch wirksam sei. Die Summer School wird in den verschiedenen Panels und Diskussionsforen Gelegenheit bieten, solchen Fragen aus heutiger Sicht nachzugehen.

Tagung „Poetic Critique“

Nicht weniger brisant als die Beziehung zwischen Politik und Literatur ist das Verhältnis von Dichtung und Kritik. Dichtung, so der Frühromantiker und Namensgeber der Graduiertenschule Friedrich Schlegel, könne auf zweierlei Weise erfasst werden, nämlich theoretisch und poetisch. In seinem „Gespräch über die Poesie“ von 1800 scheint es, als eiferten beide Formen um die Wette. Schlegel jedenfalls schlägt sich mit großem rhetorischen Witz auf die Seite der poetischen Rede über Poesie: „Poesie der Poesie“ gilt ihm als beste aller Möglichkeiten, sich über Poesie zu verständigen. Nur die „Poesie der Poesie“ begründe sich aus sich selbst heraus, nur sie dürfe sich selbst reflektieren und kritisieren. Folglich hält er die theoretische Auseinandersetzung mit Poesie nicht nur für unangemessen, sondern auch für anti-poetisch: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden.“

Schlegels revolutionärer Versuch, das Schreiben und Sprechen über Literatur neu zu verstehen, ist eine der Inspirationsquellen für die Tagung „Poetic Critique“, die das an der Graduiertenschule angesiedelte „Philologische Laboratorium“ vom 27. bis 29. Juni 2019 ausrichtet. Ziel der dreitägigen Konferenz ist es, über „historische und aktuelle Möglichkeiten einer Poetisierung von Kritik und Wissenschaft nachzudenken und zu diskutieren“, sagt Simon Schleusener. Der promovierte Amerikanist organisiert die Tagung gemeinsam mit Professor Michel Chaouli von der Indiana University, Professorin Jutta Müller-Tamm vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität und dem Doktoranden Jan Lietz.

Die Tagung möchte auch zum Erforschen des Kritikbegriffs und seiner möglichen Alternativen anregen. Welche Formen könnte Kritik annehmen, wenn sie poetisch ausgeübt würde? Was macht eine poetische Kritik sichtbar, was verbirgt sie? Hat sie, um wiederum mit Schlegel zu sprechen, ein „Bürgerrecht“ im Reich der Wissenschaft? Welche anderen Möglichkeiten gibt es, Kritik zu erneuern?

Die Tagungsorganisatoren haben Simon Schleusener zufolge weder eine „Kritik der Kritik“ im Sinn, noch soll Schlegels mehr spielerische als ernste Kampfansage an überlieferte Kritikbegriffe im Zentrum der Konferenz stehen: „Nimmt man Schlegels Überlegungen wörtlich, dann folgte daraus letztlich eine weitreichende Aufhebung der Differenz von Wissenschaft und Literatur.“ Das sei nicht der Zweck des Projekts, sagt Schleusener. „Es lohnt sich jedoch, darüber nachzudenken, wie es zu einer fruchtbaren Annäherung von Literatur und Wissenschaft kommen kann – und wie ein Kritikbegriff aussähe, der seinem Gegenstand gerecht wird.“ Folglich richtet sich die Tagung gerade auch an Personen, die sich an der Schnittstelle von Kunst und Kritik bewegen. Einige der eingeladenen Gäste, zum Beispiel die antiguanisch-amerikanische Autorin Jamaica Kincaid oder der indische Schriftsteller und Musiker Amit Chaudhuri, verkörpern diese „Doppelrolle“ in ihrer eigenen Arbeit.

Zur Teilnahme eingeladen sind alle Interessierten aus den Bereichen Philosophie und Geisteswissenschaft, Kunst und Literatur. Aufgrund der zahlreichen internationalen Gastrednerinnen und -redner findet die gesamte Veranstaltung auf Englisch statt.

Weitere Informationen

FSGS Summer School 2019

Reading Group „Engagement“
24. bis 27. Juni 2019 (in der Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig)
Bewerbungen bis zum 2. April in Kombination mit der Summer School

Summer School „The Politics of Literature – Literature and Politics“
1. bis 4. Juli 2019 (an der Freien Universität Berlin)
Bewerbung bis zum 2. April (wahlweise in Tandem mit der Reading Group)

Tagung „Poetic Critique“
27. bis 29. Juni 2019
Ort: Indiana University Europe Gateway, Gneisenaustraße 27, 10961 Berlin.

Alle Veranstaltungen – Summer School, Reading Group und die Tagung – finden auf Englisch statt.