Mit vereinten Kräften für Vielfalt
Martin Lücke, Geschichtsdidaktikprofessor an der Freien Universität, lehrt Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte – die gemeinsam mit seinem Team entwickelte virtuelle Lernplattform „queer history" war für den Respektpreis nominiert
21.02.2019
Vielfalt kann heute oft offener gelebt werden als zu anderen Zeiten (im Bild: der Christopher Street Day in Köln, Juni 2015). Dass Gesellschaften aber nicht stetig liberaler geworden sind, lehrt Martin Lücke in Seminaren und an Schulen.
Bildquelle: Uwe Aranas
Manchmal bitten Martin Lücke und seine Studierenden Schülerinnen und Schüler, historische Ereignisse der Sexualitätsgeschichte zeitlich einzuordnen: Wann bildete sich die erste Homosexuellen-Bewegung? Wann wurde Vergewaltigung in der Ehe strafbar? „Vor 1900 auf jeden Fall“, sei eine Antwort auf die letzte Frage gewesen. Dass eheliche Vergewaltigung erst seit 1994 rechtlich geahndet wird, überrasche junge Menschen häufig, sagt der Professor für Geschichtsdidaktik der Freien Universität: „Jugendliche haben oft ein sehr lineares Verständnis von Geschichte, sie glauben, dass die Gesellschaft in den vergangenen 100 Jahren immer liberaler geworden ist und dass heute alles gut ist.“
Dass es eine Geschichte der Sexualität gibt, dass die Einstellungen zu Geschlecht und Sexualität sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben, und dass auch heute noch Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, dafür möchte Martin Lücke ein größeres Bewusstsein schaffen – bei seinen Studierenden, die später als Lehrerinnen und Lehrer in der Schule wirken. Und über sie auch bei Jugendlichen.
Auszeichnung für die Lernplattform queer history, die Unterrichtsmaterial zur Verfügung stellt
Zu Martin Lückes Schwerpunkten gehört die Geschlechter- und Sexualitätsforschung. Der Wissenschaftler initierte den ersten Lehr- und Forschungsschwerpunkt zu Homosexualität an der Freien Universität: Unter seiner Verantwortung entstand 2012 in diesem Zusammenhang www.queer-history.de, ein multimediales Lernangebot zu Themen queerer Geschichte für den Schulunterricht und die außerschulische Bildung. Die Webseite wurde im vergangenen November als eines von vier Projekten für den Respektpreis nominiert, den das Berliner Bündnis gegen Homophobie vergibt. Die Plattform helfe „die Bildungsarbeit zur queeren Geschichte zu unterstützen und damit die Präsenz von Themen der sexuellen Vielfalt in Schulen, aber auch im öffentlichen Raum zu erhöhen“, heißt es in der Begründung der Jury.
Geschichtsdidaktiker Professor Martin Lücke beim ersten Berliner „Queer History Month“ im Februar 2014. Vorbild sind britische Schulen: Dort findet seit 2014 ein Monat der „queeren“ Geschichte statt.
Bildquelle: Birgit Marzinka, Agentur für Bildung e.V.
Auf dem Internetportal finden sich Interviews und Unterrichtsmaterial zu Themen wie Homosexualität in der DDR und zur Geschichte der Empfängnisverhütung sowie ein Glossar zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Außerdem werden Audio-Stadtrundgänge angeboten, die beispielsweise vom homosexuellen Leben in Berlin-Schöneberg während der 1920er-Jahre erzählen. Im Laufe von mittlerweile zehn Semestern haben Lehramtstudierende im Fach Geschichte und Absolvierende des Masterstudiengangs Public History das Lernmaterial zusammengetragen. Es sei ihm wichtig, sagt Martin Lücke, dass die Arbeit der Studierenden entlohnt werde, deshalb sind die meisten Materialien auf der Seite das Ergebnis regulärer Studienleistungen.
Der Anwendungsbezug seiner Seminare komme an. Vor seinem ersten Seminar über die Geschichte der Homosexualität habe er sich noch gefragt, ob das Thema überhaupt auf Interesse stoßen würde, sagt Lücke. Am Ende sei der Raum mit 60 Studierenden vollbesetzt gewesen. „Der Arbeitsschwerpunkt Queer History an der Freien Universität konnte sich nur etablieren, weil wir die Studierenden eingebunden haben.“
Geschützter Raum gegen Homophobie
Mit Seminaren zu queerer Geschichte könne man nicht nur dem Thema zu mehr Sichtbarkeit verhelfen, sondern auch einen geschützten Raum gegen Homophobie bieten. „Viele LGBTI-Studierende (lesbische, schwule, bi-, trans- oder intersexuelle Studierende, Anm. d. R.) kommen in diese Seminare, weil sie dort in einem herrschaftsfreieren Raum über queere Thematiken reden können. Dabei können auch schon mal die Fetzen fliegen.“ Gerade die Gruppe der Lehramtsstudierenden sei sehr heterogen, im Gegensatz zu anderen Studiengängen gebe es dort mehr Studierende aus Nicht-Akademiker-Haushalten und aus migrantischen Familien – und deswegen sehr unterschiedliche Positionen. In einem Seminar zur Ehe hätten einige etwa die Ehe für ein schützenswertes Konzept gehalten, während sie für andere Ausdruck des Patriarchats gewesen sei.
Fortbildungsveranstaltungen an Schulen
Drei- bis viermal im Semester bietet Lücke gemeinsam mit Studierenden Fortbildungsveranstaltungen an Schulen an. Er bekomme gute Rückmeldungen. „Lehrerinnen und Lehrer sind nicht verklemmt, aber über die Geschichte der Homosexualität lässt sich leichter mit Externen sprechen.“ Insbesondere mit engagierten Lehramtsstudierenden, ergänzt Lücke.
Aber es gebe auch Gegenwind: „Für die klassische Geschichtslehrerfraktion ist queere Geschichte eine Provokation, weil sie einen thematischen und keinen chronologischen Zugang zu dem Fach hat.“ Abgesehen davon empfänden einige Lehrerinnen und Lehrer einen Zugang zu dem Fach über die Perspektive der Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte sicherlich generell als heikel.
Für Schülerinnen und Schüler dagegen seien solche Projektseminare eine willkommene Abwechslung: Sie würden rege mitarbeiten und erstaunlich gut reagieren, weder kichernd noch peinlich berührt, wie man vielleicht erwarten könnte, sagt Martin Lücke: „Mit uns Externen können sie in Ruhe über Themen der Sexualität reden. Dass es um die Geschichte der Sexualität geht, hilft, weil sie dafür den eigenen Schamhorizont nicht verlassen müssen.“ Indem sie über Sexualität in einer anderen Epoche sprechen, sind sie nicht unmittelbar in ihrer Gegenwart davon betroffen. Eine Schulstunde mit einem Gespräch in entspannter Atmosphäre über Homophobie in der Geschichte sei deshalb ein wertvoller Beitrag für mehr Akzeptanz von homosexuellen Menschen auch in der Gegenwart, konstatiert Martin Lücke.
Freie Universität Berlin ist Mitglied im Bündnis gegen Homophobie
Das Bewusstsein für geschlechtliche Vielfalt in der Gesellschaft verändere sich nur durch den Einsatz vereinter Kräfte. Seit vergangenem Oktober ist die Freie Universität Mitglied im Bündnis gegen Homophobie. Damit setzt sie ein deutliches Zeichen für Vielfalt und Offenheit und positioniert das Thema prominent. In Zukunft werde es dadurch beispielsweise für mögliche Kooperationspartner leichter, mit konkreten Vorschlägen wie Tagungen zu dem Thema an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heranzutreten. „Die Mitgliedschaft in dem Bündnis zeigt, dass wir Homophobie im Hochschulraum ernst nehmen: Wir müssen uns als Universität selbst kritisch hinterfragen und anerkennen, dass auch Universitäten Orte sind, an denen Homophobie vorkommt.“