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Literarische Transplantationen

Doktorandinnen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule entwickeln mit einem Podiumsgespräch zur Verbindung von Literatur und Wissenschaft ein neues Veranstaltungsformat

10.01.2019

Sabine Gruber (rechts) las aus ihrem Roman „Über Nacht", links: Moderatorin Caroline Welsh

Sabine Gruber (rechts) las aus ihrem Roman „Über Nacht", links: Moderatorin Caroline Welsh
Bildquelle: Barbara Bausch

Was kann Literatur in Hinblick auf so essentielle Themen wie Leben und Tod leisten? Das ist eine der Fragen, auf die die Teilnehmerinnen der Diskussionsrunde „Literatur X Wissenschaft: Realismus. Transplantationen der Literatur“ in der Berliner Lettrétage immer wieder zurückkommen. Die Blickwinkel sind dabei zwei ganz unterschiedliche: Die österreichische Autorin Sabine Gruber beschäftigt sich in ihrem Roman „Über Nacht“ mit der Organtransplantation. Ihr gegenüber sitzt Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität, die zu Krankheitsnarrativen forscht.

Doppeldeutig: Transplantation

Um Transplantationen als literarisches Thema gehe es an diesem Abend einerseits, sagt Literaturwissenschaftlerin Caroline Welsh, die das Gespräch moderiert, in ihrer Einführung. Dazu gehören etwa die Fragen, wie medizinisches Wissen im Medium der fiktionalen Literatur vermittelt wird, und welche Rolle die Erlebnisperspektive der Organspendenempfänger spielt. Diskutiert werden soll aber außerdem, wie Transplantationen als Schreibverfahren ästhetisch aufbereitet werden.

Das Veranstaltungskonzept stammt von Barbara Bausch und Jennifer Bode, Promotionsstudentinnen an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität. „Wir haben den Wunsch nach einem intensiven und gleichberechtigten Austausch zwischen Literaturwissenschaftlern und Autoren, der über das hinausgeht, was bei vielen Lesungen geschieht – nämlich dass die Wissenschaftler nur Fragen an die Schriftsteller stellen“, sagt Barbara Bausch. „Wir suchen nach Formaten, um den Dialog zu fördern.“

Wenn Wissenschaft und Literatur aufeinandertreffen

Tagsüber hatten Barbara Bausch, Jennifer Bode, Dr. Julia Weber und weitere (Post-)Doktoranden der Friedrich Schlegel Graduiertenschule mit Gegenwartsautoren über Realismen in der Literatur diskutiert – auch das ist eine Erprobung des Crossovers von Wissenschaft und Literatur. Gesprochen wurde dabei etwa über Realismus als ästhetische Kategorie, über die Besonderheiten des literarischen Zugriffs auf die Wirklichkeit und über zeitgenössische Schreibpraktiken.

Initiatorin Barbara Bausch (vorne) und Literaturwissenschaftlerin Irmela Marei Krüger-Fürhoff.

Initiatorin Barbara Bausch (vorne) und Literaturwissenschaftlerin Irmela Marei Krüger-Fürhoff.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Das öffentliche Podiumsgespräch in der kleinen Lettrétage in Berlin-Kreuzberg, zu dem etwa 30 Interessierte gekommen sind, ist vielversprechend. Obwohl es keine klassische Lesung ist, liegt der Schwerpunkt auf Sabine Grubers Roman „Über Nacht“. In zwei Handlungssträngen erzählt die Österreicherin darin die Geschichten zweier Frauen: die der Wienerin Irma, die mit einer Spenderniere lebt, und die von Mira, einer Altenpflegerin aus Rom. Irmela Krüger-Fürhoff erkennt im Anagramm Mira-Irma eine poetologische Doppelung. Während Irmas Handlung personal erzählt wird, spricht Mira in der Ich-Perspektive. Sabine Gruber erklärt dies aus der Sichtweise der Schreibenden: Sie habe zu Irma Distanz aufbauen wollen, nachdem diese Figur in Wien lebe und ebenso wie sie nierentransplantiert sei. Die Italienerin Mira dagegen habe sie sich „heranzoomen“ wollen.

Die Autorin liest kurze Auszüge aus ihrem Roman, die im Anschluss literaturwissenschaftlich reflektiert werden. Eindrücklich ist die Passage, in der Irma in Zeitungen nach tödlichen Unfällen recherchiert, die kurz vor ihrer Transplantation passierten, um so zu erfahren, wer ihr Spender gewesen sein könnte: „Ich will wissen, warum ich lebe!“ Eine Suche, die sich als wiederkehrendes Motiv durch literarische und autobiografische Texte über die Organspende zieht, wie Irmela Krüger-Fürhoff aufzeigt: „Indem sie die Spenderidentität herausfinden, wollen viele Transplantierte ihr neues Leben für sich selbst absichern.“ Irmas Recherchen bleiben erfolglos, doch die Parallelen in beiden Erzählsträngen – das Anagramm etwa oder derselbe Liebhaber – lassen ahnen, dass die Geschichten der beiden Frauen aufgrund des Organs der Niere zusammenhängen.

Im letzten Drittel des Buches stirbt die Ich-Erzählerin bei einem Autounfall. Für Irmela Krüger-Fürhoff ergibt sich so ein „spezieller Dreh“, eine „versetzte Chronologie“: Die beiden Narrative wirkten zeitlich parallel, aber der Tod von Mira muss stattgefunden haben, bevor Irmas Erzählung mit dem Erhalt der Spenderniere einsetzen kann. „Ich finde die Zeitverschiebung sehr gelungen, weil eine Transplantation ja auch etwas mit dem Leben nach dem Tod zu tun hat; damit, den eigenen Tod auf eine Weise zu überleben“, argumentiert die Literaturwissenschaftlerin. Caroline Welsh fühlt sich dagegen an die eigene Sterblichkeit erinnert, vor allem, da man sich als Leser mit einer Ich-Erzählerin stark identifizieren kann.

Literatur kann über Sprache neue Bilder finden – und sie in die Realität tragen

Wie sich am Ende des Romans jedoch herausstellt, arbeitet Sabine Gruber mit einer „Fiktion zweiten Grades“, so Irmela Krüger-Fürhoff. Irma erschreibt sich als Binnenautorin Miras gesamte Geschichte selbst, nachdem ihre Suche nach ihrem Organspender ins Leere gelaufen ist. „Statt der faktischen Wahrheit setzt hier die poetische Imagination ein, weil Irma mit dem Nichtwissen, woher das eigene neue Leben kommt, schlecht umgehen kann.“

Was also kann fiktionale Literatur hier leisten? „Sie kann durch ihr Rollenspiel zu Empathie führen“, stellt Sabine Gruber fest und merkt an, dass sich Menschen, die ihre Lesungen besucht haben, Organspendeausweise ausstellen und dass Ärzte ihr Buch Neutransplantierten empfehlen. „Immunreaktionen und die psychische Akzeptanz hängen durchaus damit zusammen, welche Geschichte sich der Organempfänger erzählt – und das kann die Kultur, also etwa literarische Texte, beeinflussen“, gibt Irmela Krüger-Fürhoff zu bedenken. Caroline Welsh unterstreicht das Potenzial von Literatur: Sie könne neue Sprache und neue Bilder finden. „Literatur kann dazu beitragen, die in unserer Gesellschaft doch recht neue Erfahrung der Organtransplantation fassbar zu machen, und neue Imaginationsfelder für medizinische Praktiken eröffnen.“