„Die Kralle der Übersetzung“
Gabriele Leupold ist August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung / Laudator Georg Witte: „Sie ist ein translatorisches Raubtier“
20.12.2018
Als Übersetzerin polnischer und vor allem russischer Texte ins Deutsche hat Gabriele Leupold sich einen Namen gemacht. In diesem Semester hat sie die von der Freien Universität Berlin und vom Deutschen Übersetzerfonds 2007 ins Leben gerufene Gastprofessur inne – die erste Professur für Poetik der Übersetzung im deutschsprachigen Raum; sie wird jährlich im Wintersemester am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft besetzt.
Ihre Antrittsvorlesung hielt Gabriele Leupold in keinem Seminarraum, sondern in der Galerie „Studio Makarov“ in Berlin-Wedding, wo vor allem russische Kunst jenseits des Mainstreams ausgestellt wird. „Ein außergewöhnlicher Ort für eine außergewöhnliche Übersetzerin“, sagte Professorin Claudia Olk, Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität, zur Begrüßung in einem voll besetzten Saal.
Übersetzerin „wilder Literatur"
Auch Georg Witte, Professor am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, hob die Einzigartigkeit hervor, die Gabriele Leupolds Übersetzerinnentätigkeit auszeichne. „Gabriele Leupold übersetzt vor allem wilde Literatur, barbarische Texte, deren Sprache brennt“, sagte der Laudator und bezog sich auf außergewöhnlich schwer zu übersetzende Werke von russischen Autoren wie Andrej Belyj („Petersburg“ und „Kotik Letajew“), Andrej Platonow („Die Baugrube“), Boris Pasternak („Eine Brücke aus Papier“), Warlam Schalamow („Erzählungen aus Kolyma“) sowie auf Vertreter der jüngeren russischen Undergroundliteratur – etwa Jewgenij Charitonow („Unter Hausarrest“), Jurij Mamlejew („Die irrlichternde Zeit“) und Vladimir Sorokin („Der Obelisk“) –, die Leupold ins Deutsche übertragen hat.
„Sie ist ein translatorisches Raubtier“, sagte Witte. Ihr gelinge es, die Sperrigkeit und Komplexität der Texte in den Übersetzungen beizubehalten. In seinem Vortrag verwies Georg Witte auf die „Kralle der Übersetzung“, mit der Leupold das Potenzial der Sprachverletzung der Originaltexte freilege. Auch deshalb sei ihr 2012 der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung verliehen worden, so Witte.
„Jeder Text hat eine Poesie der Grammatik"
Nach der ausführlichen Begrüßung und Würdigung kam Gabriele Leuopold persönlich zu Wort. Ihre Antrittsvorlesung trug den Titel „Der Magnet im Universum – Werkzeug des poetischen Gedankens. Intuition und Kalkül beim Übersetzen“. Bevor sie jedoch auf ihre Technik und ihre eigene Übersetzungspoetologie zu sprechen kam, erklärte Leupold ihre frühe Faszination für die Sprache im Allgemeinen, die sie schon als Kind begeistert hätte. Jeder Mensch habe an der Sprache teil, die die Sicht auf die Wirklichkeit forme, so Leupold. Dabei sei Sprache ein merkwürdiges Geschöpf, das nicht nur Kommunikation und Logik ermögliche, sondern auch absurde Gedanken gebäre. Das zeige sich etwa in Ausdrücken wie „Es juckt mich“. Leupold unterstrich die Abstraktion dieses Satzes, indem sie ins Publikum fragte: „Wer ist eigentlich dieses ‚Es‘?“ Sie machte den Zuhörerinnen und Zuhörern klar, dass sie bei ihren Übertragungen ins Deutsche vor allem auf die Form und nicht in erster Linie auf den Inhalt achte. „Die Übersetzung richtet sich nach dem Text, nicht nach dem Leser“, erklärte die Gastprofessorin.
In ihrem sensiblen Vortrag verwies sie auf die linguistischen Theorien von Roman Jakobson und betonte, wie stark seine strukturalistische Lehre ihr Denken inspiriert habe. „Jeder Text hat eine Poesie der Grammatik. Diese will ich freilegen, so wie dies auch Jakobson getan hat. Übersetzen heißt, das Baugerüst eines Textes nachzuahmen“, sagte Leupold. Übersetzung sei eine Mischung aus Interpretation und Übertragung, aus Poetik und Grammatologie. Sie unterstrich diese Ausführungen mit einigen Beispielen und russischen Zitaten und zeigte so ganz praktisch, wie man einen fremden Rhythmus, eine musikalische Dichte aus dem Original ins Deutsche transportiert. Gabriele Leupold liegt dabei besonders der Klang eines Textes am Herzen. Die Verständlichkeit müsse im Zweifelsfall das Nachsehen haben.
Der Übersetzer oder die Übersetzerin sei wie ein Magnet, erklärte Gabriele Leupold zum Abschluss und verwies damit auf den Titel ihres Vortrags: Es gehe bei der Übertragung von einer Sprache in die andere um das Schöpfen und Abschöpfen, das ständige Changieren zwischen zwei Polen. „Übersetzen ist ein Schwebezustand zwischen den Sprachen, zwischen den Welten.“
Weitere Informationen
Die vom Deutschen Übersetzerfonds und der Freien Universität Berlin 2007 ins Leben gerufene August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur ist die erste Professur für Poetik der Übersetzung im deutschsprachigen Raum. Sie wird jährlich im Wintersemester am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft eingerichtet. Ihr Zweck ist die kritische Reflexion eigener und fremder Übersetzungsmethoden sowie die vergleichende Textanalyse (Original und Übersetzung, Übersetzungsvarianten). Zudem soll die Professur ein exponierter Ort der historischen Reflexion von Methoden und Theorien des literarischen Übersetzens sein.