Wenn in der Französischen Straße die Fledermäuse singen
Im Pierre Boulez Saal in Berlin-Mitte wurde das 20-jährige Jubiläum der Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität mit einem „Konzert der Worte“ gefeiert
14.11.2018
Musik und Literatur – wie eng beides miteinander verbunden ist, klang im „Konzert der Worte“ immer wieder an, mit dem am vorvergangenen Montagabend das Jubiläum der Samuel-Fischer-Gastprofessur begangen wurde. Seit 20 Jahren, Semester für Semester, kommen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus aller Welt ans Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität, um dort mit Studierenden über Literatur zu sprechen, gemeinsam Texte zu lesen und zu schreiben. Drei von ihnen – László Krasznahorkai aus Ungarn, Teresa Präauer aus Österreich und Louis-Philippe Dalembert aus Haiti, der derzeitige Gastprofessor – saßen an diesem Abend mit auf der Bühne.
Vier Schauspieler im dunklen Konzertsaal, beleuchtet sind nur die Treppen, auf denen sie stehen. Sie lesen aus den Erinnerungen ehemaliger Gastprofessorinnen und -professoren. So beginnt der Abend:
„Und wo ist Berlin?“ fragte ich mich. Diese Ansammlung von Bäumen, Seen und Villen konnte doch nicht die deutsche Hauptstadt sein? Ich wartete ja beinahe, dass ich Kuhglocken hörte“, schrieb etwa Yann Martel, Gastprofessor im Wintersemester 2002/2003.
„Studierende, die lesen können und verstehen wollen, mit und ohne Kanon, besitzen die rare Fähigkeit, in der Welt der Kommunikationsmedien zwischen Fake, Truth und Fiction zu unterscheiden. Fearless and thirsty and supple!”, befand Teresa Präauer, Gastprofessorin im Sommersemester 2016.
Und Feridun Zaimoglu, der die Gastprofessur im Sommersemester 2004 besetzte, beschrieb seine erste Reaktion auf die Berufung: „Was tut ein doppelter Studienabbrecher, wenn er eine Einladung zu einer Gastprofessur erhält? Er freut sich und wartet, dass sich seine Verwirrung legt. Also freute ich mich, und ich spazierte an der Kieler Förde entlang, und als ich am Robbenbecken stand, dachte ich, ich bin etwas verwirrt, aber das macht nichts. Als es dann endlich losging, kamen die Studenten in Scharen.“
Aus diesen und weiteren gelesenen Passagen spricht vieles: Verwunderung über das Berliner Idyll Dahlem, der Bezirk, in dem die Freie Universität liegt; Begeisterung über die Arbeit mit den Studierenden; Unsicherheit bei denen, die zuvor noch nie vor Studierenden gestanden haben. Vor allem aber Zustimmung für das 20 Jahre währende Projekt Samuel-Fischer-Gastprofessur.
„Die Gastprofessur ist Teil des Selbstverständnisses unseres Instituts“, sagte Claudia Olk vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität. Die Anglistikprofessorin dankte den Partnern für die dauerhafte und bereichernde Zusammenarbeit: dem Veranstaltungsforum der Holtzbrinck Publishing Group, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem S. Fischer Verlag.
Eine leise Spurensuche über das Entstehen von Texten und die Komposition von Sätzen war das Gespräch, das sie anschließend mit László Krasznahorkai führte. Von dessen Lieblingskomponist Johann Sebastian Bach hatten drei Studentinnen und ein Student des Collegium Musicum – des gemeinsamen Orchesters von Freier Universität und Technischer Universität – zuvor den dritten Satz aus dem 6. Brandenburgischen Konzert gespielt. Rhythmus, Melodie und Tempo bestimmten sein Schreiben, verriet Krasznahorkai, der Cello, Klavier, Gitarre beherrscht und auch einige fernöstliche Instrumente. Als Samuel-Fischer-Gastprofessor im Sommersemester 2008 hatte Krasznahorkai ein Seminar über das „Universum des Anfangs“ gehalten: Darüber, wie in Europa zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen über Anfänge in der Literatur, der Musik, der Kunst und im Alltag reflektiert wurde.
Am Anfang seiner Gastprofessur steht Louis-Philippe Dalembert. Der haitianische Schriftsteller, der im Oktober seine Antrittsvorlesung hielt, erzählte im Gespräch mit der Radiomoderatorin Barbara Wahlster, dass er „laut schreibe“: dass er die Wörter vor sich hersage, um sich von ihrem Klang leiten zu lassen. Mit den Studierenden seines Seminars „Littérature et histoire“ spricht Dalembert im laufenden Semester über die Verarbeitung von Ereignissen der Weltgeschichte in der Literatur. Seine Herkunft und Heimat sind in seinem Werk wiederkehrende Themen; mit 24 Jahren hat er den Karibikstaat verlassen, „vagabundiert“ seitdem durch die Welt, immer auf der Suche nach einem verlorenen Land: seiner Kindheit. Zwei Gedichte, „Geheimnisse“ und „Reise“, in seiner Muttersprache Französisch vorgetragen, ließen dieses verlorene Land anklingen.
Andreas Wilkes, Geschäftsführer des Veranstaltungsforums der Holtzbrinck Publishing Group, erinnerte an die Geschichte der 1998 eingerichteten Gastprofessur, die als gemeinsame Idee begonnen hatte. Entworfen wurde sie von Komparatistik-Professor Gert Mattenklott vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität und von Andreas Wilkes. Den Kontakt zur Freien Universität hatte der damalige Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) Heinz Christian Bode hergestellt; gemeinsam mit Hans Jürgen Balmes, damals wie heute Lektor und Programmleiter für internationale Literatur im S. Fischer Verlag, schmiedeten sie eine enge Kooperation.
Mit der Gastprofessur habe man damals ein Zeichen gegen Provinzialität setzen wollen, sagte DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel: „Die literarische Praxis sollte den Eurozentrismus überwinden.“ Andere Perspektiven kennenzulernen, sei angesichts der derzeitigen politischen Weltlage heute von größerer Bedeutung denn je: „Der internationale Austausch ist für den Bildungsweg jedes Einzelnen wichtig.“
Wie offen und fächerübergreifend die Gastprofessur interpretiert werden kann, demonstrierte die von dem Autor Florian Werner moderierte Diskussion mit Teresa Präauer und der Verhaltensbiologin Mirjam Knörnschild von der Freien Universität. Die österreichische Schriftstellerin hatte seinerzeit ihre Antrittsvorlesung als Gastprofessorin an der Freien Universität mit dem Titel „Tier werden“ überschrieben, Tiere – Vögel, zuletzt der „Affe“ Schimmi – bevölkern ihr Werk.
Nur einen Flügelschlag davon entfernt ist die Arbeit von Mirjam Knörnschild: Die Verhaltensbiologin untersucht den Gesang von Fledermäusen. Wegen ihrer hohen Frequenz können die Laute, mit denen sich die Tiere beim Fliegen orientieren, vom Menschen in der Regel nicht wahrgenommen werden. Zuweilen könne man sie aber als leises Zirpen vernehmen, wie bei einer Zikade, erläuterte die Biologin. Auf die Frage, ob sie die Sprache der Fledermäuse verstehe, sagte Mirjam Knörnschild, dass sie „rudimentär fledermausisch“ spreche. Weshalb Teresa Präauer gleich um Nachhilfe in dem Fach bat. Dass Mirjam Knörnschild in der Französischen Straße auf dem Weg zum Pierre Boulez Saal, mitten in Berlin, den Gesang von Fledermäusen gehört hatte, passte zum Konzert der Worte. Und zur Literatur, die an diesem Abend vielstimmig gefeiert wurde.
Weitere Informationen
Von Nora Amin, Andrew Sean Greer und Viktor Jerofejew über Daniel Kehlmann, Kenzaburo Oe und Alice Oswald bis zu Cécile Wajsbrot und Édouard Louis – mit den bisher 41 Autorinnen und Autoren aus aller Welt, die seit 1998 die Samuel-Fischer-Gastprofessur besetzt haben, haben mehr als 1200 Studierende der Freien Universität über Literatur diskutiert.
Ehemalige GastprofessorenEdouard Louis, Joshua Cohen, Lavinia Greenlaw, Abdourahman Waberi, Teresa Präauer, Alice Oswald, Viktor Jerofejew, Cécile Wajsbrot, Héctor Abad, David Hinton, Javier Cercas, Andrew Sean Greer, Abdelwahab Meddeb, Nedim Gürsel, Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell, Sara Stridsberg, Tomas Venclova, Mircea Cartarescu, Richard Powers, Raoul Schrott, László Krasznahorkai, Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson), Nuruddin Farah, Fernando Pérez, Dubravka Ugrešic, Amit Chaudhuri, Michèle Métail, Nora Amin, Feridun Zaimoglu, Etgar Keret, Alberto Manguel, Yann Martel, Robert Hass, Marlene Streeruwitz, Sergio Ramírez, Scott Bradfield, Kenzaburo Oe, V. Y. Mudimbe, Vladimir Sorokin.
Weitere Informationen: Peter-Szondi-Institut
Lesen Sie auch den Artikel in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität vom 6. Oktober 2018.