Von sichtbaren und unsichtbaren Barrieren
Bundesweite Befragung von Studierenden mit Beeinträchtigung zu ihrer Situation an der Universität / Georg Classen, Berater für Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten an der Freien Universität, erläutert das Ergebnis
19.10.2018
Elf Prozent der rund 2,8 Millionen Studierenden in Deutschland haben eine studienrelevante gesundheitliche Beeinträchtigung, das kann eine Behinderung sein oder eine chronische Erkrankung. 21000 von ihnen haben kürzlich an einer Online-Befragung des Deutschen Studentenwerks teilgenommen und Fragen zu ihrer Studiensituation beantwortet.
Auffallend sei, dass der Anteil an Studierenden mit psychischer Beeinträchtigung unter den Studierenden mit Beeinträchtigung in den vergangenen sieben Jahren zugenommen habe, sagt Georg Classen: Schon bei der ersten Befragung 2011 seien 45 Prozent betroffen gewesen, jetzt seien es mehr als 50 Prozent. Nur etwa zehn Prozent der Befragten litten an einer Sinnes- oder Bewegungsbeeinträchtigung, sitzen also im Rollstuhl oder haben eine Geh-, Hör- oder Sehbehinderung. Der Anteil der Studierenden mit chronischen Krankheiten wie Rheuma oder Multiple Sklerose liegt bei 20 Prozent, unter Teilleistungsstörungen wie Legasthenie leiden vier Prozent. Nur bei vier Prozent der Betroffenen sei die Beeinträchtigung für Außenstehende auf Anhieb zu erkennen.
Gerade bei den unsichtbaren Beeinträchtigungen besteht Classen zufolge Handlungsbedarf: Denn sehr viele Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigung hätten Hemmungen, sich „zu outen“ und nähmen folglich auch keine Beratungsangebote oder sogenannte Nachteilsausgleiche in Anspruch. „Sie versuchen, so klarzukommen, weil sie Angst haben, diskriminiert zu werden, oder weil sie keine Sonderbehandlung möchten“, berichtet Classen. Dass nur 29 Prozent der Studierenden mit unsichtbaren Beeinträchtigungen überhaupt versuchten, einen Nachteilsausgleich zu erhalten, sei für ihn ein alarmierendes Ergebnis der Studie. Ein Nachteilsausgleich ist zum Beispiel eine verlängerte Bearbeitungszeit für schriftliche Prüfungen, die Nutzung von Hilfsmitteln oder das Schreiben der Klausur in einem gesonderten Raum. Ein solcher Ausgleich wird immer individuell angepasst.
Zu der Hürde sich „zu outen“ komme erschwerend hinzu, dass nur etwa zwei Drittel der Anträge, die Studierende mit unsichtbarer Beeinträchtigung stellten, bewilligt würden. Deutlich höher sei der Anteil der genehmigten Anträge allerdings, wenn sie mithilfe einer Beratungsstelle für behinderte Studierende gestellt werden. Dies kann Classen auch aus seiner Beratungstätigkeit an der Freien Universität bestätigen.
Nicht nur ein Großteil der Beeinträchtigungen, sondern auch viele Barrieren, vor die sich Studierende gestellt sehen, sind unsichtbar: 90 Prozent der Befragten gaben an, Schwierigkeiten etwa mit der Einhaltung von Fristen, mit Anwesenheitspflichten und der Prüfungsdichte im Studium zu haben. Ein weiterer Faktor, der bei der aktuellen Studie erstmals abgefragt wurde, ist das soziale Miteinander. Fast die Hälfte der Studierenden mit Beeinträchtigung gab an, Probleme im Kontakt mit Kommilitonen und Kommilitoninnen, Dozierenden und der Verwaltung zu haben. Die Angst vor Stigmatisierung und Ablehnung spiele dabei eine große Rolle, so Classen.
Es gebe aber auch Positives zu berichten, sagt der Berater für Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten an der Freien Universität: Studierende nutzten die Beratungsangebote weit stärker als noch bei der letzten Befragung und empfänden sie in den meisten Fällen auch als sehr hilfreich. Für die Freie Universität sei deshalb ein Ausbau ihrer Beratungsangebote und Kapazitäten wünschenswert. Vor allem in der Studieneingangsphase wünschten sich Studierende mit Beeinträchtigung stärkere Unterstützung, weiß Classen aus zahlreichen Gesprächen.
Die Ergebnisse der Studie sind hier einsehbar.