Die präzise Unschärfe der Qualle
Schriftstellerin und Gastprofessorin Marion Poschmann hielt eine systematisch durchkomponierte Antrittsvorlesung über Meerestiere, Medusenhäupter und Wackelpudding
05.06.2018
Im Raum des Seminarzentrums sitzen nicht nur in Fachkreisen bekannte Personen wie der Literaturwissenschaftsprofessor Michael Gamper. Auch viele Studierende sind anwesend – die Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller des Autorenkollegs von Marion Poschmann. Es ist Ende April und die Trägerin des Berliner Literaturpreises 2018 hält ihre Antrittsvorlesung. Denn mit der Auszeichnung geht eine Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität einher. Drei Tage nach der Vorlesung findet die erste Sitzung des Autorenkollegs statt, Hausaufgaben wird die Dozentin Marion Poschmann heute noch nicht stellen.
„Wie arbeiten Sie eigentlich? Warum schreiben Sie? Wie entsteht ein Gedicht?“ Diese Fragen, berichtet Marion Poschmann, würden ihr immer wieder gestellt. Zur Annäherung an eine Antwort bedient sie sich des Bildes der Qualle. Geheimnisvoll und schwer einzufangen, sei die Qualle ein Wesen der Schwelle: nicht Fisch, nicht Fleisch, weder Gemüse noch Meeresfrucht. So wird das zoologische Phänomen der glitschigen Meeresbewohner, die jedem Zugriff so leicht entgleiten, zum Ausgangspunkt einer naturlyrischen und zugleich spielerischen Reflexion über das Wesen und den Neuentstehungsprozess der Literatur. Im bezeichnenden Beispiel von der Qualle zeigt sich, in welche Widersprüche die Bemühungen führen, die Dichtkunst zu begreifen.
Quallen, erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer, haben weder Gehirn, noch Herz, noch Lunge. Ihr Mund ist gleichzeitig ihr After, und ihr geleeartiger Körper besteht hauptsächlich aus Wasser. Und dennoch konnten die beinahe organlosen Nesseltiere die Jahrmillionen überstehen. Die meisten Arten führen ein verwirrendes Doppelleben zwischen freischwimmenden Medusen und sesshaften Polypen. Kommt es zur explosiven Massenvermehrung der Quallenpopulation, verstopfen sie die Filter und Kühlwasserleitungen am Meer gelegener Atomkraftwerke.
In ihrer Vagheit und Flüchtigkeit ähneln Quallen, so Marion Poschmann, mentalen Bildern. Die Qualle begleite daher häufig ihren Schreibprozess und tauche auch in vielen ihrer Texte auf. „Ich habe festgestellt, dass in fast allen meinen Büchern Quallen als Motiv vorkommen. Und wo keine Quallen vorhanden sind, spielen Quellen eine Rolle.“ Die Autorin spinnt den aus dem Wortspiel geborenen Gedanken noch etwas weiter, hin zur Qualle als greifbar gewordenem, schnittfestem Wasser, das einer Quelle entspringt. „Das Sichtbare und das Unsichtbare“, stellt sie fest, träfen in der Qualle „auf schillernde Weise zusammen“.
Marions Poschmanns präzise Sprache dreht sich häufig um die Unschärfen der Wahrnehmung, die so schwer greifbar sei wie Wackelpudding (nicht umsonst trägt die Qualle im Englischen als jellyfish das zittrige Gallert im Namen). In ihrem 2010 erschienen Gedichtband „Geistersehen“ beschreibt sie anhand des Bildes der Qualle die Schwierigkeit einer eindeutigen Entzifferung der sichtbaren Welt:
„ich sah die Quallen schweben,
sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr
erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern, leer
der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben,
als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster
auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster,
zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier.“
Auf den ersten Blick, räumt Poschmann ein, gebe es keine literarische Tradition der Qualle. Weil sich die Tentakel von Quallen wie Schlangen um ihre Körper bewegen, lautet der wissenschaftliche Begriff für die Tiere „Medusozoa“. Damit erweitere sich der Blick auf das Bild der Medusa in der griechischen Mythologie, das sich weit durch die abendländische Literatur- und Kunstgeschichte verfolgen lässt.
Die Sage der Gorgone beschreibt die Medusa als gefährliches Monster, deren Haupt von Schlangen bedeckt ist und deren fürchterlicher Anblick den zu Stein erstarrenden Betrachter oder mögliche Angreifer auf der Stelle tötet. Perseus überlistet Medusa schließlich, indem er sie nicht direkt, sondern nur mit Hilfe eines Spiegels ansieht, und enthauptet sie. In der feministischen Theorie wird die Geschichte der Medusa als Urszene des Geschlechterkampfes diskutiert und auch Sigmund Freud und Theodor W. Adorno beschäftigten sich mit der ambivalenten Gestalt und ihren möglichen Deutungen.
So entpuppt sich die bescheidene Qualle, die Marion Poschmann sich als „Wappentier“ gewählt hat, schließlich weniger als profane glibberige Strandplage, denn als vielschichtige Metapher und komplexe Figur. Am Ende ihres Vortrags entlässt sie das Publikum zurück in die „verworrenen Strömungen Berlins“, über denen, so die Autorin, das hell erleuchtete Sony Center am Potsdamer Platz wie eine riesige Tiefseequalle schwebt.
Weitere Informationen
Marion Poschmann wurde 1969 in Essen geboren und hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Freien Universität Berlin Germanistik, Philosophie und Slawistik studiert. Für ihre Prosa- und Lyrikwerke wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und 2018 mit dem Berliner Literaturpreis.
Der Berliner Literaturpreis zeichnet Autorinnen und Autoren aus, die mit ihrem literarischen Werk in den Gattungen Erzählende und Dramatische Literatur sowie Lyrik einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet haben. Mit der Preisvergabe geht das Angebot einer Berufung auf die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin einher. Die Gastprofessur war zwölfmal, von 2005 bis 2016, mit dem Namen des Dichters Heiner Müller verbunden. Seit 2017 trägt sie den Namen „Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preußische Seehandlung an der Freien Universität Berlin“.
Die Gastprofessur bietet jeweils im Sommersemester ein Forum für Textarbeit mit Studierenden der Universitäten und Hochschulen in den Ländern Berlin und Brandenburg. Bisherige Preisträger und Dozenten waren Herta Müller, Durs Grünbein, Ilija Trojanow, Ulrich Peltzer, Dea Loher, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Lehr, Rainald Goetz, Lukas Bärfuss, Hans Joachim Schädlich, Olga Martynova, Feridun Zaimoglu und Ilma Rakusa.