Springe direkt zu Inhalt

„Man wird Lehrbücher wegschmeißen müssen“

Ist die Universität den Herausforderungen der Digitalisierung gewachsen? Diese Frage wurde anlässlich der Verleihung des Lehrpreises der Freien Universität Berlin diskutiert

23.02.2017

Neurowissenschaftler Ulf Tölch stellte das mit dem Lehrpreis ausgezeichnete Projekt vor.

Neurowissenschaftler Ulf Tölch stellte das mit dem Lehrpreis ausgezeichnete Projekt vor.
Bildquelle: Patrica Kalisch

Wie tiefgreifend ist der Wandel durch die Digitalisierung in Forschung und Lehre? Ist es nur eine Transformation von Methoden, eine Erweiterung der jeweiligen Materialbasis oder findet gerade eine Revolution statt, die unsere Art zu denken verändern wird? In einer anregenden Podiumsdiskussion berichteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Mathematik und Literaturwissenschaft, welche neuen Möglichkeiten und Herausforderungen sich in ihren Fächern derzeit auftun. Die Diskussion fand im Anschluss an die Verleihung des Lehrpreises der Freien Universität sowie der Auszeichnung für herausragende Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden statt – sie zeigte auch, wie vielgestaltig die Veränderungsprozesse sind.

Bettina Engels, Professorin für Politikwissenschaft arbeitet mit digitalen Verfahren. Neben ihr Literaturwissenschaftler Burkhard Meyer-Sickendiek.

Bettina Engels, Professorin für Politikwissenschaft arbeitet mit digitalen Verfahren. Neben ihr Literaturwissenschaftler Burkhard Meyer-Sickendiek.
Bildquelle: Patricia Kalisch

„Manchmal sind Papier und Bleistift sehr nützliche Hilfsmittel der Forschung“, sagte Bettina Engels, „vor allem, wenn man keine kontinuierliche Stromversorgung hat.“ Auch ein altes Handy könne da im Unterschied zum energiehungrigen Smartphone effizienter sein. Eine überraschende Aussage für eine Forscherin, die als Vorreiterin der Digitalisierung auf dem Podium saß. Doch ohne die Digitalisierung wäre die Arbeit der Professorin für Politikwissenschaft zu Landkonflikten durch die Globalisierung im südlichen Afrika in dieser Form nicht denkbar. Die Auswertung der Bilder, die etwa Drohnen von dem umkämpften Land aufzeichnen, deren digitaler Abgleich mit vorhanden Landkarten und Angaben über die Landnutzung – als das bedeute eine immense Erweiterung der Materialbasis zur Beantwortung einer klassischen politikwissenschaftlichen Frage.

Eine Wende in der Wissenschaftsgeschichte

Jochen Schiller, Professor für Informatik und Mitglied des CIO-Gremiums und Christoph Schütte, Professor für Mathematik.

Jochen Schiller, Professor für Informatik und Mitglied des CIO-Gremiums und Christoph Schütte, Professor für Mathematik.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Zur Verleihung des Lehrpreises kamen auch zahlreiche Studierende.

Zur Verleihung des Lehrpreises kamen auch zahlreiche Studierende.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Anders sah es Christof Schütte, Professor für Mathematik und Leiter der Arbeitsgruppe „Biocomputing“ für seine Disziplin. Er gehe davon aus, dass derzeit ein Umbruch stattfinde vergleichbar mit der Wende in den Naturwissenschaften vor 300 Jahren. Auch wenn in der Mathematik Kolleginnen und Kollegen ebenfalls noch mit Papier und Bleistift arbeiteten – der Wandel sei dramatisch: „Man wird Lehrbücher wegschmeißen müssen.“ Den größten Fortschritt sehe er in der Biomedizin – hier sei es beispielsweise gelungen, ein Schmerzmittel zu entwickeln, ganz ohne Experiment und Labor, allein durch angewandte Mathematik. Auf der Überholspur seien aber die Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier gebe es eine „enorme Dynamik“.

Ein Literaturwissenschaftler, der sich auf das neue Terrain der Digital Humanities vorgewagt hat, ist der Privatdozent Burkhard Meyer-Sickendiek. Gemeinsam mit einem Informatiker arbeitet er an einem Projekt zur Erkennung von rhythmischen Strukturen in zeitgenössischen Gedichten. Die digitalen Verfahren eröffneten in der Literaturwissenschaft neue Formen der Lektüre wie das „distant reading“ (im Unterschied zum „close reading“ in hermeneutischen Textanalysen). Indem große Mengen an Texten verarbeitet werden könnten, würden übergeordnete Strukturen sichtbar.

Auch über die Verarbeitung von Textmengen hinaus, die die Lese- und Lebenszeit eines Menschen weit überschreiten würde, haben computerbasierte Verfahren in der Literaturwissenschaft Einzug gehalten: Digitale Editionen erleichtern die Erschließung von Quellen und die Arbeit anderer Wissenschaftler mit ihnen. So auch in dem Lehrvorhaben von Manolis Ulbricht, mit dem sich der Byzantinist für den Lehrpreis beworben hatte. Sein Projekt zur Edition früher Koranübersetzungen aus dem christlichen Kulturraum wurde im Rahmen der Veranstaltung gewürdigt.

Wie bereitet sich die Universität vor?

Brigitta Schütt, Vizepräsidentin der Freien Universität für Forschung und Professorin für Geographie, moderierte die Podiumsdiskussion.

Brigitta Schütt, Vizepräsidentin der Freien Universität für Forschung und Professorin für Geographie, moderierte die Podiumsdiskussion.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Doch wie muss sich eine Universität verändern, in der künftig in vielen Disziplinen digital geforscht und gelehrt wird? Jochen Schiller betrachtet das Thema immer aus einer doppelten Perspektive. Als Professor für Informatik beschäftigt er sich unter anderem mit den Risiken der Digitalisierung – etwa mit der Gefahr, die in selbstlernenden und dann nicht mehr zu kontrollierenden Systemen liegt. Außerdem ist er Mitglied des sogenannten Chief-Information-Officer-Gremiums, dem auch die Kanzlerin der Freien Universität Andrea Bör angehört. Die Vizepräsidentin für Forschung und Professorin für Geographie Brigitta Schütt, die die Veranstaltung moderierte, ist ein weiteres Mitglied. Das Gremium entscheidet über alle großen, übergreifenden Projekte der Informationstechnik– die drei Beteiligten stellen also Weichen für die Digitalisierung an der Freien Universität. Insgesamt sehe er die Freie Universität auch im internationalen Vergleich gut aufgestellt für die Herausforderungen der Digitalisierung, sagte Schiller.

Blick in der Werkstatt digitaler Wissenschaft

Dirk Ostwald, Professor für Computational Neuroscience, und Ulf Tölch, promovierter Neurowissenschaftler hatten das diesjährige Lehrpreisprojekt konzipiert.

Dirk Ostwald, Professor für Computational Neuroscience, und Ulf Tölch, promovierter Neurowissenschaftler hatten das diesjährige Lehrpreisprojekt konzipiert.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Einen tieferen Einblick in die neue Wissenschaftspraxis und ihren digitalen Werkzeugkasten gewährten an diesem Abend Ulf Tölch und Dirk Ostwald, die das mit dem Lehrpreis 2016 der Freien Universität ausgezeichnete Projekt zum Thema „Open Science“ konzipiert hatten. Sie zeigten auf eindrückliche Weise, welche Chancen in der Digitalisierung für mehr Transparenz der Wissenschaft liegen, aber auch wie viele Fragen aus dieser neuen Forschungspraxis erwachsen. So könne eine Offenlegung der Daten, die Grundlage von veröffentlichten Forschungsergebnissen seien, zu einer besseren Replizierbarkeit von Studien führen, erklärte der promovierte Neurowissenschaftler Ulf Tölch. Gleichzeitig müssten die Daten jedoch so aufbereitet werden, dass sie unabhängig von Betriebssystemen oder Analyse-Software anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden könnten. Außerdem stellten sich ethische Fragen – etwa in ihrem Forschungsbereich: Können Aufnahmen der Gehirne von Testpersonen mithilfe eines Magnetresonanztomografen einfach weitergegeben werden? Wichtige Fragen, auf die eine Antwort gefunden werden muss, nicht zuletzt, weil die „offene Wissenschaft“ politisch gewollt ist – sie gehört zur Forschungsstrategie der Europäischen Union.

Die Veranstaltung, die im Sommersemester 2017 angeboten wird, ist für Studierende aller Fachbereiche konzipiert, die mit digitalen Daten arbeiten. Hier zeigt sich ein weiterer Aspekt der Digitalisierung – sie fördert nicht nur interdisziplinäres Arbeiten, vielmehr ist der Einsatz der neuartigen Möglichkeiten der digitalen Methoden in interdisziplinären Arbeitsgruppen offenbar besonders sinnvoll.

Ein gutes Beispiel dafür lieferten auch die akademischen Biografien der beiden ausgezeichneten Wissenschaftler, wie der Präsident der Freien Universität, Peter-André Alt, in seiner Laudatio hervorhob. Dirk Ostwald, heute Junior-Professor für Computational Neuroscience, studierte Medizin, Neurowissenschaft und Mathematik; Ulf Tölch studierte und promovierte in Biologie.

Ein Lob der Präsenz

Jutta Müller-Tamm, Professorin für Literaturwissenschaft, wurde von Universitätspräsident Peter-André Alt für die hervorragende Betreuung von Promovierenden ausgezeichnet.

Jutta Müller-Tamm, Professorin für Literaturwissenschaft, wurde von Universitätspräsident Peter-André Alt für die hervorragende Betreuung von Promovierenden ausgezeichnet.
Bildquelle: Patrica Kalisch

Ihren Lehrstoff vermitteln die beiden allerdings analog – „in der Diskussion mit Studierenden“, wie Dirk Ostwald hervorhob. Mit dem Preisgeld von insgesamt 10.000 Euro werden daher auch Möglichkeiten zum Dialog in der realen Welt finanziert. Am Ende des praxisorientierten Seminars steht ein internationales Kolloquium zum Thema, das allen interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Freien Universität zugutekommen soll.

Ein Ende der Präsenz-Universität – wie es ein Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum prognostizierte – ist wohl also erst einmal nicht in Sicht. Vielleicht ist der direkte Austausch in Zeiten des digitalen Umbruchs sogar besonders wichtig, um eine eigene wissenschaftliche Haltung zu finden. Jedenfalls überraschte es nicht, dass mit dem Award for Excellent Supervision 2016 der Dahlem Research School (DRS), dem Preis für die beste Betreuung von Doktorarbeiten, eine Professorin und ein Professor für ihre Präsenz und Ansprechbarkeit ausgezeichnet wurden. Basierend auf anonymen Vorschlägen von Doktorandinnen und Doktoranden wurde die Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm für ihre Verbindlichkeit geehrt: Sie lese Texte gründlich, rechtzeitig und gebe sofort Feedback. Außerdem schaffe sie es, eine „herzliche Atmosphäre“ zwischen den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu schaffen und so eine unproduktive Konkurrenz zu vermeiden.

Auch Biologe Matthias Rillig wurde für seine umfassende Betreuung ausgezeichnet: Die Bürotür des Experten für die Ökologie der Pflanzen stehe immer offen, lobten die Promovierenden. Nur am Abend der Preisverleihung ließ er sich vertreten – allerdings nicht durch ein digitales Double, sondern einen Mitarbeiter, der die Blumen und die Auszeichnung entgegennahm.