Vom Raum zwischen den Sprachen
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky hat ihre Antrittsvorlesung als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik und Übersetzung am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft gehalten
14.11.2017
Schon 1760 schrieb der Philosoph und Übersetzer Moses Mendelssohn, dass Sprachen „nicht wechselbar“ seien und jede „ihre Eigensinnigkeit“ habe. Und doch wird von jeher versucht, fremdsprachige Werke so gut und originalgetreu wie möglich in die eigene Sprache zu übertragen. Das Übersetzen hat eine lange Tradition, und der Bedarf ist ungebrochen: Knapp 11.000 Werke wurden 2014 aus anderen Sprachen ins Deutsche übertragen oder neu aufgelegt. Das entspricht etwa zwölf Prozent der Neuerscheinungen eines Jahres. Auch an Theorien über das Übersetzen mangelt es nicht.
Kurz: Übersetzen ist eine schwer greifbare Kunst. Ist es eine Form des Abschreibens? Des Nachschreibens, Fortschreibens oder gar des Freischreibens vom Original? Ist eine Übersetzung etwas, das letztlich nie so geschrieben wurde? Ist Übersetzen überhaupt „möglich“?
In jedem Fall, sagt Esther Kinsky, sei es eine Auseinandersetzung mit der Fremde – und dabei nicht allein mit der fremden Sprache. Denn: „Jeder Dichter schreibt in seiner eigenen Sprache. Jeder Dichter (und somit Übersetzer, der ja zum (Nach-)Dichter wird) hat eigene Assoziationen.“ Mit der Farbe Blau etwa verbinde man in der eigenen Sprache eine bestimmte Vorstellung; in einer anderen Sprache sei auch die Assoziation eine andere.
Es ist ein feiner sprach- und literaturphilosophischer Ansatz, den Esther Kinsky am 1. November im Collegium Hungaricum in Berlin-Mitte ihrem Publikum vortrug. Die Übersetzerin und Autorin lehrt im Wintersemester 2017/2018 als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin, die jährlich im Wintersemester eingerichtet und vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert wird. In ihrer Antrittsvorlesung mit dem Titel Weiße Räume, lichtes Maß. Unsagbar und ungesagt in der Übersetzung widmet sie sich den Leerstellen, die zwischen Originaltext und Übersetzung verbleiben.
Die Faszination des Übersetzens
Esther Kinskys Theorie ist geprägt von Walter Benjamin. In seinem Aufsatz über die Abwesenheit einer gemeinsamen Sprache findet der Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer beeindruckende Bilder für das Phänomen der Übersetzung: „Das Werk und seine Originalsprache bilden eine Einheit wie Frucht und Schale, und die Sprache der Übersetzung umgibt ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten.“ Oder auch: „Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original.“
Esther Kinsky entwickelt etwas Eigenes daraus. Dabei ist sie weniger am oft zitierten „Übersetzer als Brückenbauer zu einer fremden Kultur“ interessiert. Auch das konkrete Bild der Brücke trifft es ihrer Ansicht nach nicht ganz: „Eine Brücke entsteht, wenn einzelne Steine in einem Bogen aneinandergefügt werden. Die Leere unter dem Bogen aber ist das ‚lichte Maß‘.“ Diese „Dazwischenwelt”, der Raum zwischen den Sprachen – letztendlich das „Ungesagte” – machen für Esther Kinsky die Faszination des Übersetzens aus. Es gehe ihr vor allem um die Struktur eines literarischen Werks, die sich durch das „Muster von Dichte und Offenheit“ ergebe. Als Übersetzerin müsse sie wissen, wie mit den Lücken eines Textes umzugehen ist, sagt Esther Kinsky. „Ein Übersetzer muss sich des Verschwiegenen, des Unsagbaren, bewusst sein.“ Die Gastprofessorin versichert, dass es keine Kluft gebe, die sich nicht poetisch überbrücken ließe. „Die Aufgabe des Übersetzers“, so schließt sie, „ist es, eine Sprache zu finden, die die Leere zulässt, über der die Brücke der Worte entsteht.“
Wie der herausfordernde Prozess des Übersetzens selbst ist auch das Nachdenken darüber nie abgeschlossen. In Esther Kinskys Seminar, das sie in diesem Semester an der Freien Universität gibt, will sie mit den Studierenden der Literaturwissenschaft praktisch arbeiten. „Sie werden in den nächsten Monaten Gelegenheit haben, am Werk des amerikanischen Lyrikers Charles Olson zu untersuchen, in welchem Maß die Spannung von Assoziationskräften wirkt“, sagt die Gastdozentin. Ausgesucht haben sich das Thema die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars. Und Esther Kinsky ermutigt ihre Studierenden weiter: „Traut euch! Es gibt bei sprachschöpferischer Kreativität kein ‚Falsch‘.“