Filmgeschichte als Steinbruch
Nächster Termin: 8. November, 17 Uhr: Filmwissenschaftliche Vorlesungs- und Filmvorführungsreihe im Kino Arsenal
07.11.2016
„Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ von Helke Sander (BRD 1977).
Bildquelle: Screenshot aus Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers
Der kanadische Regisseur Denis Côté ist in seinem Film „Bestiaire“ (2012) von der „naiven Lust ausgegangen, die speziellen Energien, das Verhältnis von Mensch und Tier oder auch die missglückten Begegnungen zwischen ihnen zu erforschen".
Bildquelle: Screenshot aus Bestiaire
Von Foucaults Aufbereitung des spektakulären Mordfalls Pierre Rivière bis zum feministischen Film der siebziger Jahre – in der Vorlesungsreihe „Die Filmwissenschaft, das Archiv und die Differenz“ diskutiert Professorin Sabine Nessel Fundstücke aus dem umfangreichen Filmarchiv des Arsenal – Institut für Film und Videokunst. Die Filmvorführung schließt direkt an den wissenschaftlichen Vortrag an. Unter anderem soll es darum gehen, die besondere Rolle von Filmarchiven in Hinblick auf die filmgeschichtliche Forschung zu reflektieren. Campus.leben sprach mit Sabine Nessel über die Filmauswahl und wie es zur ersten Vorlesungsreihe der Freien Universität kam, die in einem Kinosaal stattfindet.
Frau Professorin Nessel, Sie sind Initiatorin der Vorlesungsreihe. Wie kam es dazu und wer kann teilnehmen?
Wir sind in Berlin in der tollen Situation, dass es hier mehrere hochrangige Archive und Filminstitutionen gibt. Das Arsenal – Institut für Film und Videokunst bot sich als zentraler Kooperationspartner an, da es eine sehr aktive Archivpolitik betreibt. Das Arsenal-Projekt „Living Archive“ etwa begreift Archivarbeit als lebendigen Prozess und als künstlerisch-kuratorische Methode der Gegenwart. Im Rahmen der Vorlesung möchte ich die Frage nach der Bedeutung von Archiven für die filmhistoriografische Forschung stellen und unter anderem Filme präsentieren, die selten zu sehen sind oder in Hinblick auf die traditionelle Filmgeschichte als eher randständig gelten können. Die Vorlesung richtet sich zwar vorrangig an Studierende der Filmwissenschaft. Da Veranstaltungen im Arsenal Kino aber öffentlich sind, sind alle Interessierten eingeladen teilzunehmen.
Nach welchem Prinzip haben Sie die Filme, die im Rahmen der Reihe gezeigt werden, ausgewählt?
Die Auswahl orientiert sich am Archivbestand des Arsenals. Unter den ausgewählten Filmen befinden sich unter anderem Dokumentarfilme zu Musikkulturen an der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze, zur anthropologischen Differenz – also zum Verhältnis von Mensch und Tier – und Filme, die zum feministischen Kino der siebziger Jahre zählen. Filmgeschichtsschreibung, die vom Archiv ausgeht, bringt eine andere Filmgeschichte hervor – im Gegensatz zur traditionellen Filmgeschichte, die sich etwa an sogenannten „Meisterwerken“ orientiert. Im Archiv offenbart sich eine besondere Vielfalt, insbesondere auch im Hinblick auf Filmformen. Da finden sich etwa ungewöhnliche dokumentarische Formate und sogenannte Gebrauchsfilme, die ursprünglich gar nicht zur öffentlichen Vorführung gedacht waren. Man kann die Filmgeschichte als Steinbruch begreifen, in dem es viel mehr Brüche gibt, als man bisher geglaubt hat. Da stellt sich immer wieder die Frage, was fehlt oder was bisher einfach sehr wenig rezipiert worden ist. So werden wir uns zum Beispiel mit Filmen des amerikanischen Dokumentaristen Les Blank beschäftigen, dessen Werk lange Zeit wenig bekannt war.
Am 8. November, dem nächsten Termin Ihrer Reihe, soll es um Michel Foucaults historiografische Methode gehen. Im Anschluss zeigen Sie den Film „Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma sœur et mon frère...” („Ich, Pierre Riviere, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe”) von René Allio. Worauf können sich Besucher einstellen?
Am 8. November wird es vorrangig um den kultur- und filmwissenschaftlichen Diskurs des Archivs gehen. Michel Foucault spielt da eine zentrale Rolle, da er den Begriff der Geschichte durch den der Archäologie ersetzt hat. Dabei ist die Differenz, sind also die gesellschaftliche Abweichung und das Randständige von Belang. Foucault und seine Kollegen haben den rechtshistorisch gut dokumentierten Fall Rivière von einer besonderen Archivtheorie ausgehend im Rahmen eines Archivprojektes untersucht, René Allio hat Foucaults Vorgehen dann filmisch nachvollzogen. „Moi, Pierre Rivière" ist aber kein einfacher Historienfilm, sondern eher ein archivologisches Re-enactment des Foucaultschen Dossiers.
Die Fragen stellte Nora Lessing.
Weitere Informationen
Film- und Vorlesungsreihe „Die Filmwissenschaft, das Archiv und die Differenz“
Zeit und Ort
- Dienstags, 17 Uhr Vorlesung, 18 Uhr Filmvorführung
- Nächster Termin: 8. November 2016
- Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin (U-Bahn / S-Bahn Potsdamer Platz; Bus M41, M48, M85, 200, 347)
Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.