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„Das Ausschlaggebende sind die Details“

Zu seiner Antrittsvorlesung hatte Germanistikprofessor Jürgen Brokoff die Nobelpreisträgerin Herta Müller an die Freie Universität eingeladen

07.07.2016

Literaturwissenschaftsprofessor Jürgen Brokoff (r.) hatte zu seiner Antrittsvorlesung Herta Müller eingeladen. Links neben ihr ihr Mann Harry Merkle, rechts der Niederlandist Jan Konst.

Literaturwissenschaftsprofessor Jürgen Brokoff (r.) hatte zu seiner Antrittsvorlesung Herta Müller eingeladen. Links neben ihr ihr Mann Harry Merkle, rechts der Niederlandist Jan Konst.

Die Antrittsvorlesung, das Gespräch mit der Autorin und deren Lesung hatten zahlreiche Interessierte in den Hörsaal gezogen. An die Veranstaltung schloss sich ein Empfang an.

Die Antrittsvorlesung, das Gespräch mit der Autorin und deren Lesung hatten zahlreiche Interessierte in den Hörsaal gezogen. An die Veranstaltung schloss sich ein Empfang an.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Herta Müller erzählte von ihrem Schreiben, von der Vorbereitung auf das Schreiben und davon, wie sich ein Gegenstand seine Sprache sucht.

Herta Müller erzählte von ihrem Schreiben, von der Vorbereitung auf das Schreiben und davon, wie sich ein Gegenstand seine Sprache sucht.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Jürgen Brokoff forscht und lehrt zu Krieg und Kriegsverbrechen in der Literatur. In seiner Antrittsvorlesung zitierte er aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“.

Jürgen Brokoff forscht und lehrt zu Krieg und Kriegsverbrechen in der Literatur. In seiner Antrittsvorlesung zitierte er aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Für eine Antrittsvorlesung ist es nie zu spät. Das bewies Jürgen Brokoff, Professor für Deutsche Philologie und Neuere deutsche Literatur, mit seinem Vortrag „Jede Schicht ist ein Kunstwerk“ zu Ethik und Ästhetik in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ (2009). Die Literaturnobelpreisträgerin, die im Jahr 2005 die erste Heiner-Müller-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität innehatte, saß nicht nur als Zuhörerin dabei: Nach der Vorlesung bat Jürgen Brokoff sie zum Gespräch und zeigte in eindrucksvoller Weise, wie der Dialog zwischen Literatur und Philologie gelingen kann.

Professor Jan Konst, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsche und Niederländische Philologie, stellte seinen Kollegen Jürgen Brokoff vor, der seit 2013 an der Freien Universität wirkt. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind deutschsprachige Migrations- und Minderheitenliteraturen der Gegenwart, deutsch-jüdische Literatur und die literarische Repräsentation von Kriegsverbrechen. 1999 hat Jürgen Brokoff zum Thema der „Apokalypse in der Weimarer Republik“ promoviert, seine Habilitationsschrift widmete sich der „Geschichte der reinen Poesie“ (2009).

Über die literarische Darstellung von Herkunft und Zugehörigkeit

Universitätspräsident Professor Peter André-Alt würdigte in seinem Grußwort Brokoffs Wirken als Forschungsdekan. Professorin Claudia Olk, Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften, hob die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus der Soziologie am Sonderforschungsbereich Affective Societies hervor. In seiner Antrittsvorlesung sprach Jürgen Brokoff über die sprachliche Vielfalt in der deutschen Literatur, gerade, was die literarische Darstellung von Herkunft und Zugehörigkeit betrifft. Wie sehr dies auch auf das Werk von Herta Müller zutrifft, zeigte er in präzisen Lektüren ihrer Texte.

Herta Müller wurde 1953 in Nitzkydorf in Temeschwar, Rumänien, geboren, „am Rande der Welt“, wie Brokoff die Autorin zitierte. 1987 reiste sie nach West-Berlin aus, nachdem der rumänische Geheimdienst Securitate sie wiederholt überwacht, verhört und bedroht hatte, weil sie ihre Mitarbeit verweigerte.

Ihre Kurzgeschichte „Deutscher Scheitel, deutscher Schnurrbart“ thematisiert die Kollaboration von Rumäniendeutschen mit den Nationalsozialisten; im Roman „Atemschaukel“ wird der Protagonist stellvertretend für die deutschen Verbrechen in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert. Vorbild für den homosexuellen 17-jährigen Protagonisten des Textes war der in Siebenbürgen geborene Oskar Pastior, der, ebenfalls im Alter von 17 Jahren, in ein sowjetisches Arbeitslager verschleppt worden war. Von seinen Erlebnisse hatte er Herta Müller in langen Gesprächen berichtet, gemeinsam haben sie die Realität des Romans diskutiert. Die Entmenschlichung im Arbeitslager und die Präsenz dieser Erfahrung auch im Leben danach waren zentrale Themen der Antrittsvorlesung.

Zwei Arten von Schönheit

Im Weiteren ging es in Brokoffs Vortrag um jene zwei Arten von Schönheit, die im Schreiben über das vergangene Jahrhundert, das Jahrhundert der Extreme, möglich sind: Ein spitzenbesetztes Taschentuch erscheint dem Protagonisten in „Atemschaukel“ so wundervoll, dass er es nicht mit der Realität im Lageralltag vereinbaren kann. Diese Schönheit „tut weh“, sodass er das Taschentuch schließlich versteckt, statt es gegen Hirse einzutauschen.

Anders ist es mit der Artistik, der Grazie der Bewegung beim Kohleschaufeln. Diese Schönheit ringt der Ich-Erzähler dem Lageralltag in einem Akt des geistigen Widerstands ab, indem er sich der Führung der „Herzschaufel“ überlässt. Wie bei einem Tanz oder einem Eiskunstlauf konzentriert sich der Zwangsarbeiter auf die Details der lebendigen Bewegung, auf die Stellung der Füße, auf die Haltung der Zehen, und versucht so, den Hunger zu vergessen. Zugleich erobert er sich auf diese Weise Selbstachtung und Menschenwürde zurück.

Genaue, schmerzhafte Erinnerung

Konzentriert und still lauschte der voll besetzte Hörsaal der Lesung dieser Szene. Herta Müller erzählt darin, wie der Aufseher „mit öligem Blick und sauberen Fingern“ die Hauptfigur nach der Arbeit im Kohlekeller fragt. „Jede Schicht ist ein Kunstwerk“, antwortet der Protagonist im Roman und gab damit dem Abend den Titel. Im Gespräch erörterten Brokoff und Müller die Ironie und den in der Antwort zum Ausdruck gebrachten verzweifelten Kampf um einen Rest von innerer Freiheit. Die Nobelpreisträgerin erzählte von ihrer Reise mit Oskar Pastior an den Ort des Lagers im sowjetischen Donbas und seine genaue, schmerzhafte Erinnerung.

Betrachte sie beim Schreiben die Bedeutung dieser Vergangenheit, so würde sie ihr nicht begegnen können, sagte Müller. „Das Ausschlaggebende sind immer die Details. Das ist das Verflixte daran.“ Für das Gesamtbild brauche es die Literaturwissenschaft, die mit Begriffen arbeite, Zusammenhänge finde und Überblick schaffe, ergänzte die Autorin, die in den 70er Jahren selbst rumänische und deutsche Philologie studiert hat. 2014 lernten sich Jürgen Brokoff und Herta Müller während einer Vortragsreihe im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen der Hebrew University und der Freien Universität Berlin in Jerusalem kennen. Ihrem Dialog hätte man gern noch länger gelauscht.