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„Europa entscheidet sich auch jenseits des Ärmelkanals“

Masterstudierende der Europawissenschaften an der Freien Universität beim WDR-Europaforum im Auswärtigen Amt

20.05.2016

Joanna Klever und Philippe Meistermann studieren im Masterstudiengang Europawissenschaften an der Freien Universität. Beim WDR-Europaforum am 12. Mai im Auswärtigen Amt verfolgten sie die Diskussionen zwischen EU-Politikern und Journalisten.

Joanna Klever und Philippe Meistermann studieren im Masterstudiengang Europawissenschaften an der Freien Universität. Beim WDR-Europaforum am 12. Mai im Auswärtigen Amt verfolgten sie die Diskussionen zwischen EU-Politikern und Journalisten.
Bildquelle: Christine Boldt

Bundeskanzlerin Angela Merkel macht neben der aktuellen Flüchtlingskrise Sorgen, dass Europa wirtschaftlich nicht erfolgreich genug sei: „Das müssen wir ändern.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel macht neben der aktuellen Flüchtlingskrise Sorgen, dass Europa wirtschaftlich nicht erfolgreich genug sei: „Das müssen wir ändern.“
Bildquelle: WDR/Herby Sachs

Außenminister Steinmeier: Der zunehmende Populismus arbeite mit der Angst der Menschen vor Kontrollverlust. Deshalb zögen sie sich „ins Nationale“ zurück. Demokratie heiße jedoch, ein Stück Kontrolle abzugeben – um gemeinsam handeln zu können.

Außenminister Steinmeier: Der zunehmende Populismus arbeite mit der Angst der Menschen vor Kontrollverlust. Deshalb zögen sie sich „ins Nationale“ zurück. Demokratie heiße jedoch, ein Stück Kontrolle abzugeben – um gemeinsam handeln zu können.
Bildquelle: WDR/Herby Sachs

Eines der größten Privilegien seines Jobs sei es, dass er Menschen in der ganzen Welt treffe, die auf Europa schauen, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in der vergangenen Woche beim WDR-Europaforum. „Von außen sieht Europa nämlich ziemlich anders aus als von innen.“ „Europa ohne Europäer? Die EU im Krisenmodus. Europa verändert sich“ lautete das Thema des diesjährigen Forums im Auswärtigen Amt, das zum 19. Mal stattfand. Auf dem Podium große Namen aus Politik und Medien – im Publikum: Joanna Klever und Philippe Meistermann, beide im zweiten Semester des Masterstudiengangs Europawissenschaften an der Freien Universität.

Europa ist für die Erasmus-Generation eine Selbstverständlichkeit: Grenzenlos reisen zu können, mit einer gemeinsamen Währung zu zahlen, sich eher als Europäer zu fühlen als einem Nationalstaat zugehörig – für Joanna Klever, Tochter deutsch-polnischer Eltern, und Philippe Meistermann, Deutsch-Franzose, ist Europa Alltag. Und steht in ihrem Studienfokus: Der Masterstudiengang Europawissenschaften – gemeinsam getragen von Freier Universität, Technischer Universität und Humboldt-Universität zu Berlin – wurde 1998 auf Initiative des Auswärtigen Amtes eingerichtet. Das interdisziplinär angelegte einjährige Studium soll auf Führungspositionen in europarelevanten Bereichen auf nationaler und internationaler Ebene vorbereiten. Der nächste Jahrgang der Europawissenschaften startet im Oktober 2016.

Eine neue Vision von Europa

Im Februar hatte Philippe Meistermann ein Praktikum im Auswärtigen Amt gemacht; zum Europaforum war der 24-Jährige an den Ort zurückgekehrt, an dem die „Verhandlung von Krisen zum Alltagsgeschäft“ gehört, wie Steinmeier sagte.

Welche Werte halten uns und was hält Europa zusammen? WDR-Intendant Tom Buhrow, der das Forum moderierte, plädierte dafür, gemeinsam eine neue Vision von Europa zu entwickeln und auch unbequeme Fragen zu stellen. Dafür hatten der Westdeutsche Rundfunk und andere ARD-Anstalten ihre erste Journalistengarde aufgeboten: Von der Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios Tina Hassel und der Chefredakteurin des WDR-Fernsehens Sonia Seymour Mikich über SWR-Chefredakteur Fritz Frey bis hin zu Rolf-Dieter Krause, dem Leiter des ARD-Fernsehstudios Brüssel, fühlten renommierte Medien-Profis Politikern auf den Zahn.

Größen aus Politik und Medien auf dem Podium

Miroslav Lajcak, slowakischer Minister für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten etwa, wurde im Doppelgespräch mit dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn von Rolf-Dieter Krause befragt: Warum es seinem Land nicht möglich sei, das vereinbarte Kontingent von 1500 Flüchtlingen aufzunehmen. Die Argumentation des Slowaken, sein Land habe keine Kolonialvergangenheit wie andere EU-Länder und deshalb keine Erfahrung mit Fremden, ließ Asselborn nicht gelten. Er erinnerte seinen Kollegen und Freund „Miro“ daran, dass Verträge zu halten seien: „Solidarität gibt es insgesamt oder gar nicht.“ Von Juli an übernimmt die Slowakei turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft – Asselborn beschwor Lajcak, die bis dahin verbleibenden Wochen zu nutzen, um für sein Land – „und für Europa“ – eine Lösung zu finden.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte ihre „Enttäuschung“ darüber, dass „an der humanitären Aufgabe“, die Flüchtlinge zu verteilen, nicht alle teilnähmen. Neben der aktuellen Krise macht ihr vor allem die große Jugendarbeitslosigkeit in einigen europäischen Ländern Sorgen: „Europa ist wirtschaftlich nicht erfolgreich genug, das müssen wir ändern.“

„Zu selten Europa-Bekenntnisse im Alltag“

Masterstudent Philippe Meistermann fehlt es auch an Grundsätzlichem: „Man hört im Alltag zu selten Europa-Bekenntnisse“, sagte er. Dieser Meinung ist auch der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der die Europa-Grundsteinlegung im Jahr 1957 als „zweite kopernikanische Wende“ bezeichnete. Er plädierte in seinem leidenschaftlichen Vortrag für den „Universaleuropäer“ und wandte sich gegen den „eindimensionalen Europäer“. Nationen seien historisch überkommene Konstrukte – „Wir-Gruppen“, denen die Aggression anderen Nationen gegenüber systemisch innewohne, wie Menasse sagte. Längst habe die Globalisierung nationale Grenzen gesprengt. „Die Europäische Union muss zum Absterben der Nationalstaaten führen“, rief Menasse ins Publikum. „Je früher Sie sich an diesen Gedanken gewöhnen, desto besser für Sie.“

Absage des polnischen Außenministers

Joanna Klever bedauerte, dass der polnische Außenminister, der im Programm angekündigt war, kurzfristig abgesagt hatte. Sie vermutete, dass sich Witold Jan Waszczykowski aufgrund der Verwerfungen im deutsch-polnischen Verhältnis nicht einem kritischen Gespräch mit Journalisten habe aussetzen wollen. „Wenn man Politiker ist, muss man seine Haltung vor Gegnern vertreten“, kritisierte auch Philippe Meistermann. Ein polnischer TV-Redakteur, der am Nachbartisch mit Kollegen diskutierte, hatte eine andere Erklärung: Der Politiker habe mit seiner Absage ein Zeichen setzen wollen: gegen die deutsche Europapolitik.

Die Außenperspektive einnehmen

Europa sei „eine zivilisatorische Errungenschaft ohnegleichen, eine der größten Errungenschaften der Moderne“ – die Einschätzung der beiden nicht-europäischen Europafreunde US-Präsident Obama und Papst Franziskus wurde an diesem Tag mehrfach beschworen. Wenige Wochen vor dem bevorstehenden Brexit-Referendum in Großbritannien am 23. Juni, sagte Frank-Walter Steinmeier: „Europa entscheidet sich auch jenseits des Ärmelkanals.“ Und fügte hinzu: „Wenn wir in einem Jahr die Europäische Union noch in der Form haben, in der sie heute besteht, haben wir viel gewonnen.“

Welchen Weg Europa seit seinen Anfängen im Jahr 1957 zurückgelegt hat, welche Hindernisse überwunden werden mussten und müssen, wurde in den Diskussionen an diesem Maitag – fast 60 Jahre nach dem Abschluss der Römischen Verträge – immer wieder deutlich. Joanna Klever und Philippe Meistermann zogen eine positive Bilanz der Veranstaltung. Ihr habe das Europaforum „neuen Schwung“ gegeben, sagte die Studentin: „Es hat mich nur noch Europa-enthusiastischer gemacht.“

Weitere Informationen

Masterstudiengang Europawissenschaften

Der aktuelle Jahrgang des Masterstudiengangs Europawissenschaften hat im Februar dieses Jahres unter der Überschrift „Generation Europe“ eine Umfrage gestartet. Etwa 150 Vertreterinnen und Vertreter der Generation, „die ohne Weltkriegserlebnisse, aber schon mit einer bestehenden Europäischen Union aufgewachsen ist“, wurden nach ihren Vorstellungen zu Europa befragt.

Vorbild war eine Erhebung aus dem Jahr 1925 der Zeitschrift „Paneuropa“. Damals war Europas Avantgarde aus Kunst, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft befragt worden, unter anderem Albert Einstein, Thomas Mann und Konrad Adenauer.

Sommerfest des Masterstudiengangs

Zeit und Ort

  • 1. Juli 2016, ab 17 Uhr
  • Garten der Villa der Europawissenschaften, Otto-von-Simson-Straße 3, 14195 Berlin (U-Bhf. Thielplatz oder Dahlem-Dorf, U 3)

Der Jahrgang wird die Umfrageergebnisse auf dem Sommerfest der Europawissenschaften am 1. Juli ab 17 Uhr im Rahmen der International Week der Freien Universität Berlin präsentieren. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist nach Anmeldung per E-Mail unter otto@europawissenschaften-berlin.de möglich.