Digital und autoritär
Repressive Staaten wie China oder Russland nutzen digitale Technologien auf je eigene Weise: Als Werkzeuge der Überwachung und um ihre Legitimität zu stärken. Über die Grenzen des autoritären Regierens in der digitalen Welt
05.10.2023
Liest man deutsche Zeitungen, dann ist oft von China als „digitalem Überwachungsstaat“ die Rede: als einem Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger per Gesichtserkennung und sozialem Punktesystem lückenlos kontrolliert und unterdrückt.
Dabei erschöpft sich die Nutzung digitaler Technologien in China nicht darin, die Repression in einem Ein-Parteien-Staat zu flankieren. Der chinesische Staat, der in der Digitalisierung eine globale Vorreiterrolle einnimmt, bedient sich ihrer auch für ganz andere Zwecke.
Genia Kostka ist Sinologin und Professorin an der Freien Universität und forscht schon länger zu den verschiedenen Facetten der Digitalisierung in China. Ganz allgemein bilanziert sie: „Eine Zeitlang gingen viele Menschen davon aus, dass das Internet ein Freiheitsmedium sei und dass die digitalen Technologien in Staaten wie China über kurz oder lang zu einer Demokratisierung führen würden. Das ist nicht eingetreten. Vielmehr nutzt die Kommunistische Partei in China eben diese digitalen Technologien, um ihre Herrschaft zu stärken und abzusichern.“
Teil davon sei die Überwachung, sagt Kostka. Aber zugleich setze die Regierung die Digitalisierung auf lokaler Ebene auch dafür ein, Umweltprobleme besser in den Griff zu bekommen, Verkehrsprobleme zu lösen und dergleichen mehr. Beispielsweise gebe es Apps, durch die Fälle von Umweltverschmutzung gemeldet werden könnten, also eine Art des digitalen Feedbacks an die Regierenden: „Smart Governance“ würde man so etwas wohl in Europa nennen. Dabei gehe es darum, sagt Genia Kostka, „sich als Regierung Legitimität zu verschaffen, indem man den Bürgern signalisiert: Wir lösen eure Probleme.“
Propaganda stößt auch an Grenzen
Dies trägt womöglich dazu bei, dass manche Anwendungen, die in Europa als bedrohliche Überwachung erlebt würden, in China von vielen Menschen eher akzeptiert würden: Viele seien wohl resigniert, sagt Genia Kostka, und dächten, die Regierung besitze sowieso alle ihre Daten schon.
Aber viele sähen die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, das damit verbundene Kontakt-Tracing und selbst die Punktesysteme für Sozialverhalten auch als effiziente Technologien, die doch während der Corona-Pandemie nützlich gewesen seien und mit denen man sich auch aus einer Art Bequemlichkeit abfinde.
Genia Kostka meint, dass die Bedeutung des chinesischen Sozialkreditsystems oft überschätzt wird: Es gebe kein nationales Punktesystem, sondern nur lokale Varianten, auch sei die Beteiligung an solchen Scoringsystemen niedrig.
Natürlich werde im chinesischen digitalen Raum auch massiv staatliche Propaganda eingesetzt, wie die Wissenschaftlerin betont. Aber diese Propaganda habe Grenzen, wie an den Protesten gegen die Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung im Jahr 2022 sichtbar gewesen sei: Damals explodierte der gärende Unmut über harsche und lange Lockdowns auf einmal in zahlreichen Protestkundgebungen, die die Regierung zu einer 180-Grad-Wende in der Coronapolitik zwang.
Im Extremfall werden soziale Medien abgeschaltet
Auslöser der Proteste waren Berichte in den sozialen Medien, wie jener über einen Vater, der mit seinem kranken Sohn nicht ins Krankenhaus durfte, weil er seinen Pass nicht dabei hatte, worauf der Sohn verstarb. Genia Kostka vermutet, die Dynamik der Proteste damals erkläre sich auch daraus, dass die Lokalregierungen den Unmut ihrer Bevölkerung nicht länger hätten besänftigten können und wollen, da sie selbst wegen der hohen Kosten für PCR-Tests und anderen Aufwand, der in Verbindung mit der Pandemie stand, in Haushaltsschwierigkeiten geraten waren.
Die Episode zeigt, wie ein relatives Maß an Meinungsfreiheit der Regierung nützt, weil sie sonst blind wäre für die Auswirkungen ihrer Politik; zugleich kann es für diese gefährlich werden, wenn der Unmut sich hochschaukelt. Dann sei auch die Zensur überfordert, sagt die Wissenschaftlerin: Im Extremfall bleibe der Regierung dann nur noch die Abschaltung der sozialen Medien, wie das in arabischen Staaten oder dem Iran immer wieder gemacht wurde.
Starke Unterschiede
Oder wie in Russland, wo seit dem Beginn des Ukraine-Krieges sowohl Facebook als auch Instagram von der Regierung abgeschaltet wurden. Alexander Libman ist Professor für Politikwissenschaft am Osteuropa-Institut der Freien Universität, zusammen mit Genia Kostka hat er im Rahmen des Exzellenz-Clusters SCRIPTS ein Projekt initiiert. Darin geht es um staatliche Versuche in Russland und China, das Regierungsnarrativ über den Krieg in der Ukraine auch mithilfe digitaler Technologien durchzusetzen.
Alexander Libman weist darauf hin, dass sich die staatliche Infrastruktur der Kontrolle des Digitalen in Russland von der in China stark unterscheide. Der Grund dafür sei, dass die Digitalisierung in Russland ursprünglich nicht vom Staat vorangetrieben worden sei, sondern von privaten Akteuren. Weil der Staat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Phase der Schwäche durchlebte und sich nach einiger Zeit – unter Präsident Wladimir Putin – die Kontrolle über alle Bereiche der Wirtschaft und der Kommunikation zurückholte und die russischen privaten Internetunternehmen enger an sich band, wie der Wissenschaftler analysiert.
Auch in Russland gebe es Aspekte der Digitalisierung, sagt Alexander Libman, die von vielen Bürgern als effizient und nützlich wahrgenommen würden, etwa ein digitales Bürgerportal, das schon vor mehr als zehn Jahren eingeführt wurde. Der Politologe schätzt, dass „diese Art der E-Governance nicht der Repression dient, sondern als Anstrengung, den Staat zu modernisieren, zu verstehen ist“. Allerdings könne sich das auch ändern: Heute wird das digitale Bürgerportal dazu verwendet, die Einberufung von wehrpflichtigen Männern abzuwickeln.
Ein Rest Freiheit
In Russland habe der Staat, sagt Alexander Libman, das erste Mal im Jahr 2011 gespürt, wie soziale Medien für die Entstehung einer Protestbewegung genutzt wurden. Damals begannen die Behörden, die Bevölkerung immer stärker zu kontrollieren. Das sei zwar eher punktuell abgelaufen, aber dann in Kombination mit exemplarischen und harten Bestrafungen für bestimmte Fälle von Kritik am Regime.
Allerdings versuche man seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, diese Überwachung auszuweiten: weshalb nun soziale Medien wie Facebook und Instagram gänzlich blockiert wurden. Auch hier hat die Kontrolle Grenzen: Telegram, sagt Alexander Libman, habe sich als unblockierbar erwiesen.
Man könnte bilanzieren: Autoritäre Staaten wie China und Russland bedienen sich der digitalen Technologien, um ihre Herrschaft abzusichern, zur Überwachung, Repression und für die Propaganda. Doch wenn sie nicht einen Rest Freiheit zuließen, würden die digitalen Medien ihre Funktion verlieren. Es ist ein Rest Freiheit, aus dem ab und an der Wunsch nach Veränderung Funken schlagen könnte.
Weitere Informationen
- Arbeitsbereich Politik am Osteuropa-Institut
- Institut für China-Studien am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften