Literatur weiterdenken: Festival „Assemblage. 60 Jahre Literatur intermedial“ vom 15. bis 17. Juni
Das Literarische Colloquium Berlin feiert sein 60-jähriges Bestehen mit einem dreitägigen Literaturfestival: Das Kooperationsprojekt mit dem Exzellenzcluster „Temporal Communities“ der Freien Universität will die Grenzen der Literatur neu ausloten
14.06.2023
Es beginnt mit einem Komma, gefolgt von zahlreichen weiteren Satzzeichen. Sie füllen die Folie, die Elfi Seidel vorsichtig von den Erkerfenstern der Gründerzeitvilla am Wannsee abzieht. Die bildende Künstlerin ist an diesem warmen Vormittag im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) zu Gast. Um zu prüfen, ob alles passt, bevor die Satzzeichen vom 15. bis 17. Juni 2023 im Rahmen des Festivals „Assemblage. 60 Jahre Literatur intermedial“ den Blick der Gäste auf den Garten und den See unterbrechen werden. Sie sollen einladen zum Verweilen, Sich-Wundern und Nachdenken – wie das ganze Festival.
Das groß angelegte Kooperationsprojekt zwischen dem LCB und dem Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität Berlin nimmt das 60-jährige Bestehen des Literarischen Colloquiums zum Anlass, Literatur in ihren vielfältigen Erscheinungsformen nachzuspüren und sie in vier Festival-Sektionen – „Optische Literatur“, „Theater bewegen“, „Laute Literatur“ und „What Happened to the End of Books“ – intermedial erlebbar zu machen.
„Wir wollen keine klassische Rückschau halten, sondern eher einen Blick ‚zurück in die Zukunft‘ wagen“, sagt Florian Höllerer, promovierter Literaturwissenschaftler und Leiter des LCB. „Unser Ziel ist es, derzeitige Diskurse und derzeitiges Wissen in das Festival zu integrieren, da genau dies die gegenwärtige Arbeit in und mit der Literatur prägt.“ Das Literarische Colloquium solle in der Öffentlichkeit nicht als „Leseschloss“ wahrgenommen werden, „sondern als Villa Kunterbunt, als Begegnungsraum, der zugänglich ist für alle, die Freude an Literatur haben“.
Entsprechend vielfältig ist das Programm. Es gibt wissenschaftliche Vorträge und Gespräche, aber auch Performances, experimentelle Workshops und Ausstellungen, Filmvorführungen, Hörstationen und eine durch künstliche Intelligenz entworfene Rauminstallation – all das auf wechselnden Bühnen drinnen und draußen.
„Wir wünschen uns, dass die Teilnehmenden durch das Haus gleiten und so auch über Dinge stolpern, die ihnen im Programm nicht direkt ins Auge springen“, sagt Anna Luhn. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist am Exzellenzcluster für den Transferbereich zuständig und hat für das Festival die digitale Sektion mitkonzipiert – Stichwort Blick in die Zukunft. „Wir experimentieren dafür mit der Verschränkung von Digitalem und Analogem“, erklärt Anna Luhn. „Die Künstlerin Julia Nakotte hat einen Ausstellungsraum von der künstlichen Intelligenz DALL·E entwerfen lassen und diesen nachgebaut.“
Der Gedanke der digital-analogen Verschränkung werde beim Festival auf unterschiedlichste Weisen weiterentwickelt, etwa auch in einem Werkstattformat mit dem Autor Juan S. Guse zur Zusammenarbeit mit einer Maschine beim Schreiben von Literatur. Anna Luhn sagt: „Die Intermedialität von Literatur potenziert sich im Digitalen.“
Regine Ehleiters Handy klingelt. Schon wieder. In den Tagen vor dem Festival ist die Postdoktorandin am Exzellenzcluster, die die wissenschaftliche Koordination des Festivals innehat und die Festivalausstellung kuratiert, gefühlt überall gleichzeitig. Es müssen noch Listen erstellt, Kanthölzer besorgt, die Rede für den Eröffnungsabend geschrieben werden, Plakate aufgehängt und Rücksprache mit mehreren Künstler*innen gehalten werden. Trotzdem nimmt sie sich für alle Beteiligten Zeit und behält den Überblick. „Es geht viel um das Sichtbarmachen von vermeintlich unbeachteten Elementen, die wir durch künstlerische Bezüge zu Vergangenem in die Gegenwart und damit aus der Unsichtbarkeit holen“, sagt Regine Ehleiter.
Konkret sind das etwa: Silikon-Buchseiten, die über Stuhllehnen hängen. Fotos aus den 1960er Jahren, die erneut belichtet und ergänzt werden. Alte Tondokumente aus dem LCB-Archiv, die digitalisiert wurden und über QR-Codes individuell abrufbar sein werden.
So kurz vor Beginn des Festivals ist das LCB Baustelle, Werkstatt – und vielleicht mehr denn je ein Ort der künstlerischen Auseinandersetzung mit allen Facetten der Literatur. „Das Literarische Colloquium ist dabei nicht nur Spielstätte, sondern auch selbst zum Forschungsgegenstand geworden“, sagt Jutta Müller-Tamm. Die Germanistin ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität und Vorsitzende des Trägervereins des LCB. Sie leitet innerhalb des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ das Forschungsprojekt „Writing Berlin“, das internationale literarische Austauschbeziehungen in Berlin vom Mauerbau bis zur Gegenwart untersucht. Sie sagt: „Heute ist Internationalität für uns etwas Selbstverständliches, aber das LCB stand von Beginn an dafür ein, war in der öffentlichen Wahrnehmung auf diese internationale Ausrichtung abonniert und damit seiner Zeit weit voraus.“
Ein Ausdruck dieser Internationalität war und ist die Publikationsreihe der LCB-Editionen, knapp 100 Bände mit kürzeren Texten einer zunehmend internationalen Autor*innenschaft, die das Literarische Colloquium in den Jahren 1968 bis 1989 veröffentlicht hat. „Für die Berliner Literaturszene der 1970er und 80er Jahre war diese Reihe prägend“, sagt Jutta Müller-Tamm. Deshalb widme das Festival den Bänden eine Ausstellung mit dem Titel „LCB-Editionen, 1968-98 – eine Re-Lektüre“.
Darauf reagiert neben anderen Künstler*innen auch Elfi Seidel, die gerade im Erkerzimmer Satzzeichen am Fenster platziert: Sie stammen aus dem Aufsatz „Gesicht und Maske“, der für den 51. Band der LCB-Editionen geschrieben wurde, aber nie in der Reihe erschienen ist: Der Autor György Konrád, der als ungarischer Dissident unter Publikationsverbot stand, veröffentlichte den Text 1992 im Suhrkamp-Verlag, was durch ein neues Künstlerbuch von Samuel Bich auch im Rahmen des Festivals nachzuerleben sein wird.
So stehen also 836 Satzzeichen – Punkte, Kommata, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Semikola, Bindestriche, Gedankenstriche, Doppelpunkte, ein Apostroph und zwei Klammern – inmitten unsichtbarer Wörter zwischen den Betrachtenden und dem in die Nachmittagssonne getauchten Garten des LCB. Zeichen, die zum Nachdenken und Sich-Wundern einladen. Wie so vieles, was in den kommenden drei Festival-Tagen im Literarischen Colloquium Berlin passieren wird.
Weitere Informationen
Das Festival Assemblage Berlin. 60 Jahre Literatur intermedial findet vom 15. bis 17. Juni 2023 im Literarischen Colloquium am Wannsee statt, das in diesem Jahr 60-jähriges Bestehen feiert. Bespielt werden die Villa und der Garten. Das Festival ist eine Kooperation des Exzellenzclusters Temporal Communities - Doing Literature in a Global Perspective.