Ein Tag im Wandel
Was verbindet Frauenbewegung, Nationalsozialismus und Schnittblumenhandel? Eine kurze Geschichte des Muttertags, der sich in Deutschland zum 100. Mal jährt
20.04.2023
Blumen, Pralinen, selbstgebastelte Karten: Am zweiten Sonntag im Mai dürfen sich viele Mütter über besondere Geschenke und andere Zeichen der Dankbarkeit ihrer Kinder freuen. Der Muttertag – Mother’s Day in englischsprachigen und Día de la Madre in spanischsprachigen Ländern, Fête des Mères in Frankreich oder Anneler Günü in der Türkei – wird weltweit gefeiert, auch in Äthiopien, auf den Fidschi-Inseln und in Kuwait.
Der Muttertag verbindet seit jeher unterschiedliche soziale Bewegungen mit Geschäftsinteressen, Geschlechterrollen mit Weltanschauungen, Globalisierung mit lokalen Ritualen. Doch seine Ursprünge sind nicht sehr alt. Der Fest- und Gedenktag, so wie wir ihn heute kennen, entstand erst im 20. Jahrhundert – als ein ideelles amerikanisches Exportgut. In Deutschland wurde der Muttertag erstmals 1923 begangen.
In den USA erhob Präsident Woodrow Wilson 1914 den Mother’s Day zu einem offiziellen Feiertag für sein Land. Vorausgegangen waren Jahre regelrechter Öffentlichkeits- und Lobby-Arbeit verschiedener Gruppen, vor allem von Kirchen und Frauenvereinen. Eine Schlüsselfigur dabei war Anna Marie Jarvis, die ihrer verstorbenen Mutter einen Gedenktag und allen Müttern einen Festtag widmen wollte. Sie inspirierte damit viele Menschen ihrer Zeit.
„In weiten Teilen der US-amerikanischen Frauenbewegung und auch in religiösen Gemeinden galt Mütterlichkeit, die ja mit diesem Tag geehrt werden sollte, als eine weibliche Tugend, die der gesamten Gesellschaft zugutekam“, erklärt Ute Frevert, Historikerin am Max-Planck-Institut und Honorarprofessorin der Freien Universität. Mütter stünden, so die Ansicht zu jener Zeit, im Einsatz für den Frieden, für das Gemeinwesen, für die Bildung der nächsten Generation. „Damals ging es nicht in erster Linie um das individuelle Verhältnis zwischen Mutter und Kind, sondern um eine Art soziales Prinzip: An der Mütterlichkeit sollte die Welt oder zumindest die Nation genesen“, sagt Ute Frevert.
Dieser Gedanke wurde schnell auch außerhalb der Frauenbewegungen aufgegriffen, in den USA nicht anders als in Europa. Dabei kam es manchmal zu bemerkenswerten Allianzen zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Kirchen und Frauenvereinen.
Aber auch die Geschäftswelt war angetan und erfand die bis heute typischen Muttertags-Geschenke: Blumen, Pralinen, Karten. „Damit verlor sich, je länger, desto mehr, der soziale oder sogar politische Charakter des Tages“, betont die Geschichtswissenschaftlerin. Das erkannte auch schon die Begründerin des Muttertags Anna Marie Jarvis. Sie kritisierte das kommerzialisierte Spektakel und bereute, an dessen Entstehung beteiligt gewesen zu sein.
Viele strebten nach Freiheit
Und auf der anderen Seite des Atlantiks? Auch in Deutschland unterstützten viele die Einführung des Muttertages – nicht nur der „Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber“. Die bürgerliche Frauenbewegung, kirchliche Kreise und konservative Parteien spielten dabei eine wichtige Rolle. Doch in den 1920er-Jahren suchten viele bürgerliche Frauen nicht mehr ausschließlich die Erfüllung als Mutter und strebten auch anderes an – mehr Freiheit und Eigenständigkeit.
Im Jahr 1933 war es mit der Emanzipation allerdings wieder vorbei: Der Nationalsozialismus erstickte die liberalen und emanzipativen Kräfte der Weimarer Republik. Stattdessen etablierte er einen Mutterkult und machte den Muttertag zu einem offiziellen Teil des NS-Feierjahres: „Mutterschaft galt als Erfüllung des Frauenlebens und als eine höchste soziale Aufgabe“, erläutert Heike Pantelmann, Geschäftsführerin des Margherita-von-Brentano-Zentrums für Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin. Frauen sollten allerdings nur Mutter werden, wenn sie auch den Maßstäben der menschenverachtenden Rassenideologie des Nationalsozialismus entsprachen.
„Reichsdeutsche arische Frauen“ hätten möglichst viele Kinder zu gebären und sie zu „guten Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten“ zu erziehen, sagt Heike Pantelmann. Das sei ihr verpflichtender „Dienst an der Volksgemeinschaft“. So wurde gleichzeitig vom „Mutterberuf“ gesprochen, von Mutterschaftsleistungen, die auch zu honorieren seien. Mehrfache – also verdienstvolle – Mütter etwa bekamen bei Festveranstaltungen das sogenannte Mutterkreuz verliehen, das weibliche Pendant zum Eisernen Kreuz.
„Es wurden Ränge festgelegt wie bei olympischen Medaillen“, sagt Heike Pantelmann. Eine goldene Auszeichnung erhielten Mütter von mindestens acht Kindern. Silber gab es für sechs oder sieben Kinder und Bronze für vier oder fünf. „Mutterschaft war also leistungsorientiert organisiert – es ging dabei auch um die ‚Produktion‘ künftiger Soldaten“, erklärt Heike Pantelmann. Sehr erfolgreich war diese Politik allerdings nicht – die Geburtenrate veränderte sich kaum im Vergleich zu den 1920er-Jahren. Und auch in den 1950er-Jahren blieb die Zwei-Kinder-Familie die Regel.
Frauentag statt Muttertag
Nach 1945 verlor der Muttertag seinen Status als nationaler Feiertag. „Aber die Allianz aus Floristen, Kirchen und konservativen Parteien hatte Bestand“, konstatiert Ute Frevert. Im Westen Deutschlands wurden einige Traditionen des Muttertags weiterhin gepflegt. Die DDR hingegen vollzog einen vollständigen Bruch mit dem zuvor nationalsozialistisch gefärbten Ehrentag deutscher Mütter und setzte auf den Internationalen Frauentag im März, anknüpfend an den „Kampftag“ für das Frauenstimmrecht aus dem frühen 20. Jahrhundert.
In der Bundesrepublik kam in den 1970er-Jahren deutliche feministische Kritik am antiquiert wirkenden Muttertag auf. Bei Protestmärschen war auf Plakaten und Bannern beispielsweise zu lesen: „Nicht Blumen, Rechte fordern wir!“. Der neue Zeitgeist tat der Popularität des Festtags aber keinen Abbruch. Der Muttertag wird in Deutschland weiter gefeiert.
„Offenbar haben kommerzielle Interessen und emotionale Bedürfnisse ein nachhaltiges Bündnis geschlossen“, schätzt Ute Frevert die heutige Bedeutung des Muttertags ein. Ihrer Meinung nach könnte der Muttertag heute getrost aus dem Kalender gestrichen werden: „Wir brauchen keine kalendarische Erinnerung daran, einmal im Jahr unseren Müttern Geschenke zu machen“, sagt die Historikerin. „Aber wir können uns für die Liebe und Sorge bedanken, die uns beide Elternteile geschenkt haben. Nicht nur einmal im Jahr und nicht mit Blumenbouquets aus dem Supermarkt, sondern durch tätige Sorge, wenn sie nottut, und durch beständige Anteilnahme.“
Auch Heike Pantelmann sieht den Muttertag kritisch. „Ich finde es richtig, Müttern zu danken, denn sie leisten unglaublich viel unbezahlte Arbeit. Ich würde mir statt des Muttertags aber eher sozialpolitische Maßnahmen zur Entlastung von Müttern wünschen.“
Blumen, Pralinen, selbstgebastelte Karten – das sind schöne Dinge. Mütter freuen sich aber besonders über Unterstützung und Dankbarkeit an 365 Tagen im Jahr – nicht nur am zweiten Sonntag im Mai.
Dieser Artikel ist am 23.04.2023 in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität Berlin erschienen.