„Die Protestbewegung ist noch lange nicht zu Ende“
Ein Interview mit Rosa Burç und Jannis Julien Grimm vom Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Freien Universität zur aktuellen Situation im Iran
13.02.2023
Mit einer Demonstration am 14. Februar erreichten 2011 die Ausläufer des sogenannten Arabischen Frühlings auch den Iran. Anders als in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wo die Demonstrierenden reihenweise die autoritären Regime ins Wanken brachten, verhinderten Repressionen und Einschränkungen des öffentlichen Raumes im Iran frühzeitig, dass die Proteste überhaupt zu einer Revolution anwachsen konnten. Zwölf Jahre später ist alles anders: Demonstrierende im ganzen Land trotzen seit Monaten der Staatsgewalt. Ihr Volksaufstand stellt das Erbe der iranischen Revolution vor 44 Jahren auf den Prüfstand.
Dieses besondere revolutionäre Moment steht im Zentrum einer Diskussionsveranstaltung an der Freien Universität am Dienstag, 14. Februar 2023 – auf den Tag zwölf Jahre nach den Demonstrationen von 2011. Unter der Überschrift „Revolutions in Iran and Beyond: Transnational Feminist, Kurdish and Social Mobilization“ diskutieren Jannis Grimm und Mariam Salehi vom INTERACT-Zentrum mit Sanaz Azimipour vom „Woman* Life Freedom Collective Berlin“, Tareq Sydiq vom Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg und Rosa Burç, Doktorandin am Center on Social Movement Studies der Scuola Normale Superiore in Florenz und derzeit Gastwissenschaftlerin der INTERACT-Nachwuchsgruppe „Radikale Räume / Radical Spaces“.
Bitte beachten Sie: Die Veranstaltung ist ausgebucht, der Link zum Stream wird kurz vor der Veranstaltung auf der Webseite veröffentlicht.Ein Gespräch mit Rosa Burç und Jannis Grimm über die aktuelle Situation im Iran und warum Protestbewegungen nicht linear verlaufen.
Frau Burç, wo steht die Protestbewegung im Iran heute, sechs Monate nach dem Tod von Mahsa Amini, der 22 Jahre alten iranischen Kurdin, die am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam starb?
Rosa Burç: Die Hochphase der Proteste war im November und Dezember 2022, da schrieben die Medien täglich darüber, und die Proteste waren in sehr vielen Städten sichtbar. Seit Jahresbeginn fühlt es sich so an, als ob sich die Protestbewegung abgeschwächt hätte, aber der Eindruck täuscht: Die Menschen protestieren weiter. Erst in der vergangenen Woche wurden einige Protestierende aus dem Gefängnis entlassen; das Erste, was sie gemacht haben, war, „Jin, Jiyan, Azadî“, also „Frau, Leben, Freiheit“ zu skandieren.
Meiner Ansicht nach sind die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Protestbewegung immer noch so entschlossen und überzeugt, wie sie es vor sechs Monaten waren, auch wenn viele mittlerweile sehr erschöpft sind.
Man kann nicht sagen: Die Energie der Bewegung ist verpufft, die Bewegung ist am Ende?
Rosa Burç: Nein, absolut nicht. Protestbewegungen funktionieren auch nicht so, sie verlaufen nicht immer linear. Es gibt immer Episoden, in denen sehr viele Menschen auf die Straße gehen, wo stark und sichtbar mobilisiert wird. Dann gibt es aber auch Momente in revolutionären Umbruchsphasen oder Protestbewegungen, in denen der Protest unsichtbar wird, wo er zwar äußerlich abebbt, tatsächlich aber weitergeht. Man sammelt sich, schöpft neue Kraft, und irgendwann tritt das dann auch wieder an die Oberfläche.
Ich würde sagen, dass die heutigen Proteste Teil eines schon lange anhaltenden Umbruchs sind, der seit Jahren – vielleicht sogar seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 – andauert.
Wer sind die wichtigsten Akteure und Akteurinnen in dieser Bewegung?
Rosa Burç: Das sind oppositionelle und sehr vielschichtige Gruppen in der Gesellschaft – also Arbeiter*innen, Studierende, Kurd*innnen, Belutsch*innen, Aserbaidschaner*innen, Monarchist*innen. In der Vergangenheit haben diese Gruppen auch schon Proteste initiiert, aber meist voneinander getrennt. Heute schaffen es manche dieser Gruppen, stärker zu interagieren und sich besser miteinander zu verbinden.
Das ist das Neue an dieser revolutionären Episode, und das macht auch dem Regime so viel Angst: Es ist viel schwieriger, eine Bevölkerung zu unterdrücken, in der die verschiedenen Gruppen sich in ihrer gegenseitigen Unterdrückung sehen und dies anerkennen, in der gemeinsam gehandelt wird und gemeinsame Zukunftsvorstellungen ausgehandelt werden.
Das zeigt sich etwa daran, wie richtungsweisend die kurdische Opposition für die derzeitige Protestepisode war: Nicht nur, dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“, der seine Wurzeln in der kurdischen Widerstandsbewegung in der Türkei hat, übernommen worden ist. Auch dem von kurdischen Aktivist*innen ausgerufenen Streik sind große Teile der Gesellschaft gefolgt.
Diese Allianzen sind Ausdruck gesellschaftlicher Lernprozesse, die gruppenübergreifend und transnational sind. Das alles heißt natürlich nicht, dass es nicht auch zu Konflikten und Herausforderungen kommt bei den Aushandlungsprozessen, wie eine neue Gesellschaft auszusehen hat.
Nach der Phase blutiger Repression mit mehreren Todesurteilen für Demonstranten kommt jetzt eine Amnestie: Was hat es damit auf sich?
Rosa Burç: Die Hinrichtungen haben nicht aufgehört, allein im Januar wurden Hunderte Menschen exekutiert. Nur in den Medien hört man seltener davon. Die Amnestie ist etwas, das oft zu Jahrestagen passiert, wie jetzt dem 44. Jahrestag der Islamischen Revolution. An solchen Tagen werden Menschen begnadigt.
Aber Begnadigung heißt nicht, dass die Menschen in die Freiheit entlassen werden, sondern sie müssen unterschreiben, dass sie die Straftat, die ihnen angehängt wird, bereuen und nicht noch einmal begehen werden. Für Protestierende bedeutet das zum Beispiel, dass sie eine schlimmere Bestrafung erwartet, wenn sie erneut protestieren sollten. Das alles zeigt, dass das Regime nicht sanfter geworden.
Sie sprechen davon, dass die Protestbewegung sehr vielfältig ist: Es ist eine Freiheitsrevolution, eine feministische Revolution, eine kurdische Revolution, eine antiautoritäre, soziale, säkulare – es sind viele Revolutionen. In der Debatte, welche Gesellschaftsform auf die Islamische Republik folgen soll, wird dann aber oftmals einfach angenommen, dass die naheliegendste Alternative eine Art säkulare Monarchie sein könnte, also eine Rückkehr zum Status Quo vor der Revolution 1979.
Gibt es denn im Iran eine Übereinkunft darüber, welche politischen Institutionen und Visionen der Bewegung in ihrer Vielfältigkeit am ehesten entsprechen würde? Können die verschiedenen Gruppen sich auf eine gemeinsame Vision einigen?
Rosa Burç: Eine solche Debatte gibt es, auch wenn der dominante Diskurs sich tatsächlich zwischen diesen beiden Optionen bewegt: säkular-nationalistisch oder islamistisch-nationalistisch.
Aus der Perspektive der Kurd*innen sind beide Optionen keine Lösung. In beiden Modellen werden sie nämlich aufgrund ihrer Identität unterdrückt. So ist die Hälfte aller im Iran Inhaftierten kurdischer Herkunft – obwohl Kurd*innen nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ihre Unterdrückung begann außerdem nicht erst mit der Gründung der Islamischen Republik, sondern war auch schon zu Zeiten der Pahlavi-Monarchie ausgeprägt.
Heute gibt es einen alternativen Diskurs besonders in universitären Kreisen, in der jungen Generation, die sich nicht entscheiden müssen will zwischen oktroyierten Dichotomien und begrenzten Zukunftsmodellen. Sie sucht nach neuen Möglichkeiten, das Zusammenleben für alle, vor allem für die vom Status Quo marginalisierten und unterdrückten Menschen zu organisieren. In diesem Kontext sind auch die Diasporagesellschaften wichtig. Sie sind zu Räumen geworden, in denen neue Gesellschaftsvorstellungen frei ausgehandelt werden.
Herr Grimm, wie wichtig war und ist die internationale Solidarität für die Protestbewegung im Iran?
Jannis Grimm: Internationale Solidarität spielt zum Zeitpunkt der Massenmobilisierung in Autokratien eine sehr große Rolle, vor allem, um mediale Präsenz aufrechtzuerhalten und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Nach den Hochphasen eines Protestes können Diasporagemeinschaften wiederum die Tatsache, dass es zu Massenprotesten kam und diese unterdrückt wurden, gegenüber politischen Entscheidungsträgern im Ausland als Faustpfand nutzen, um auf Veränderungen in der Haltung gegenüber ihren Heimatländern hinzuwirken und Verantwortung einzufordern.
Sie sind auch wichtig, um das Bewusstsein im Ausland dafür zu schärfen, dass Volksaufstände nicht die Ursache für, sondern vor allem ein Symptom von soziopolitischer Instabilität sind.
Mir scheint, es gab eine gewisse Hilflosigkeit auch von Seiten der offiziellen Politik in Europa, nämlich dass man nicht recht wusste, was man eigentlich tun kann, um die Bewegung zu unterstützen?
Jannis Grimm: Die Unterstützung von Massenbewegungen ist immer ein zweischneidiges Schwert. Denn sie liefert häufig auch den Vorwand dafür, dass Bewegungen diskreditiert und Demonstrierende als ausländische Agenten diffamiert werden.
Das von Ihnen angesprochene Zögern ist teilweise vor diesem Hintergrund zu erklären, teilweise aber auch, dass man Sorge hatte, dass stärkerer Druck die Türen für weitere Verhandlungen um das iranische Atomprogramm endgültig verschließen könnte.
Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass die Rolle des Auslandes nicht entscheidend war für den Erfolg der Proteste. Es zeigt sich immer wieder, dass bei Massenprotesten die Art und Weise, wie ein Regime reagieren kann, stark davon abhängig ist, wie es international wahrgenommen wird. Im Fall des Iran dagegen, wo das Regime schon vor der Niederschlagung der Proteste ein Paria war, kann es im Prinzip kaum mehr einen Gesichtsverlust geben. Ähnlich war es 2011 in Syrien. Wenn ein Regime eine soziale Mobilisierung als existenzielle Bedrohung empfindet, ist der Druck aus dem Ausland oft nicht mehr ausschlaggebend für das Handeln der Eliten.
Sie sprechen von transnationalen Effekten, also sozialen Bewegungen, die anderswo in der Region stattgefunden haben, und auf die die Protestbewegung geantwortet hat oder mit denen sie kommuniziert. Wie kann man sich das vorstellen?
Jannis Grimm: Die Erfahrung von Repression und Marginalisierung ist etwas, das Menschen weltweit verbindet. Solidarität und Lerneffekte über Grenzen hinweg entfalten sich auf einer Graswurzel-Ebene, oft schon lange, bevor überhaupt darüber gesprochen wird. Man guckt sich Strategien voneinander ab, Symbolik, aber auch taktisches Vorgehen, etwa, wie man sich auf Demos verhält, wie man Sicherheitskräften effektiv widersteht usw. Das geht bis hin zu einzelnen Hashtags und Slogans, die wiederverwertet werden und an die angeknüpft wird.
Es ist deswegen kein Zufall, dass man Solidaritätsbekundungen mit dem Protest im Iran oder der kurdischen Bewegung aktuell auch in Spanien, Frankreich oder Peru sieht – oder auch bei den Protesten gegen den Kohleabbau in Lützerath. Und natürlich lernen Bewegungen in einem bestimmten Land auch aus der eigenen Geschichte und aus Fehlern oder Erfolgen der Vergangenheit.
Die Fragen stellte Pepe Egger