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„Unterstützen, ohne den Wandel dominieren zu wollen“

Mariam Salehi, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, zu den Protesten im Iran, vergleichbaren Aufständen und den Möglichkeiten, von außen Einfluss zu nehmen

31.10.2022

Mariam Salehi untersucht, wie politische, soziale, ökonomische und rechtliche Faktoren in transnationalen Konflikten zusammenwirken. Die promovierte Politikwissenschaftlerin fragt, welche Folgen sich daraus für die Konfliktregulierung ergeben.

Mariam Salehi untersucht, wie politische, soziale, ökonomische und rechtliche Faktoren in transnationalen Konflikten zusammenwirken. Die promovierte Politikwissenschaftlerin fragt, welche Folgen sich daraus für die Konfliktregulierung ergeben.
Bildquelle: Marion Kuka

Seit dem 16. September 2022, nach dem Tod von Jina Mahsa Amini durch Polizeigewalt, erschüttern Proteste in zahlreichen iranischen Städten das Land. Woher speist sich die Wut, die sich in den Kundgebungen entlädt? Welche Rolle spielt die Frage des Kopftuches wirklich? Und welche Möglichkeit hat das iranische Regime, die Lage zu befrieden, welche Legitimität besitzt es noch? Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Mariam Salehi, die an der Freien Universität Berlin am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) die Nachwuchsgruppe „Transnationale Konflikte“ leitet.

Frau Salehi, wie würden Sie bezeichnen, was sich in den vergangenen Wochen im Iran ereignet hat: Handelt es dabei um einen Aufstand? Eine Revolution? Eine Protestbewegung?

Ich würde sagen, wir haben es mit einem Aufstand zu tun, also mit einem revolutionären Prozess. Wohin er führen oder wie weit er gehen wird, ist noch nicht abzusehen. Aber es ist auf jeden Fall mehr als nur eine Serie von Protesten. Wir sehen das auch daran, dass das Ziel der Protestierenden die Beendigung der gegenwärtigen Zustände ist, das heißt: eine umfassende Transformation der Verhältnisse. Es geht nicht um Sachpolitik.

Wo liegen die Ursachen für die Wut, die sich hier entlädt? Es scheinen ja mehrere Aufstände parallel abzulaufen, also einerseits in den kurdischen Gebieten und Belutschistan und zugleich in Teheran, wo eher die Mittelschicht auf die Straße geht und die Proteste sich vor allem an der Kopftuchfrage entzünden. Wie sehen Sie das?

Ich weiß gar nicht, ob ich das so unterschreiben würde, dass sich die Proteste in Teheran vor allem um das Kopftuch drehen. Das Kopftuch ist eher ein Symbol, die Kopftuchfrage ist ein Symptom für größere politische Missstände.

Konzentrieren wir uns im Westen so stark auf das Kopftuch, weil es in unseren Gesellschaften ein Thema ist? Es scheint sich dafür sehr zu eignen, weil in ihm buchstäblich Politik greifbar wird.

Ja, natürlich, das Kopftuch ist symbolisch sehr wichtig. Es ist etwas, was wir sehen. Da geht es nicht um das Kopftuch selbst, sondern das Kopftuch wird verstanden als Ausdruck politischer Repression …

… die bei Frauen wegen des Kopftuchs sichtbarer ist als bei Männern?

Genau. Aber es betrifft ja auch die Männer, wenn die Frauen unfrei sind.

Sind die Männer demnach ebenso unfrei, nur sieht man ihnen das nicht gleich an?

Ja. Wenn ich noch einmal zurückkommen darf auf Ihre Frage, wer im Iran eigentlich gegen das politische System aufsteht: Wir sehen gerade, dass das politische System dort es geschafft hat, sehr viele verschiedene Bevölkerungsschichten zu verprellen. Es geht nicht nur um das Kopftuch und auch nicht nur um Benachteiligung von Minderheiten. Die Wut speist sich aus dem Zusammenspiel von politischen und sozioökonomischen Missständen, es geht um fehlende politische Rechte ebenso wie um ökonomische Probleme.

Wie viel Legitimität besitzt das Regime noch? Daran wird sich ja auch entscheiden, wie viel Gewalt es einsetzen muss, um die Aufstände zu beenden.

Das ist schwer zu sagen. Wir sehen, dass die Sicherheitskräfte einerseits relativ brutal vorgehen, aber andererseits, wenn man das so ausdrücken will, den Moment verpasst zu haben scheinen, die Aufstände frühzeitig derart hart zu unterdrücken, dass sie sich nicht weiter ausbreiten konnten.

Je geringer die Legitimität, umso mehr Gewalt muss eingesetzt werden. Zugleich nimmt die Legitimität immer mehr ab, sie wird zusehends verspielt durch den Einsatz von Gewalt. Das hat beispielsweise in der tunesischen Revolution eine große Rolle gespielt: Dort hat das brutale Vorgehen am Anfang der Aufstände viele in der Mittelschicht verprellt, die vielleicht schon unzufrieden, aber nicht so stark betroffen waren von politischer Marginalisierung und Staatsgewalt.

Besteht überhaupt noch die Möglichkeit, dass die Regierung die Menschen dadurch zufriedenstellt, dass sie Zugeständnisse macht? Etwa die Sittenpolizei abschafft oder dergleichen?

Ich glaube nicht, dass das noch genügen würde. Und wenn, käme es zu spät. Wir haben das bei anderen revolutionären Ereignissen in den vergangenen Jahren gesehen: Oft versuchen Regimes, wenn sie nicht anders können, Konzessionen zu machen, wenn das Momentum schon vorbei ist.

Vielleicht hätten derartige Zugeständnisse vor drei Wochen noch jemanden zufriedengestellt, jetzt nicht mehr. Das hat auch damit zu tun, dass es in solchen Fällen nicht nur eine Quelle der Unzufriedenheit gibt, sondern viele, auf so vielen Ebenen. Da reicht das Drehen an einer Schraube nicht mehr aus.

Welche Art der Unterstützung für die Proteste ist aus dem Ausland sinnvoll? Und welche ist überhaupt möglich?

Das ist nicht so einfach. Das iranische Regime behauptet ja gerne, dass die Proteste sämtlich aus dem Ausland gesteuert sind. Das sind sie sicher nicht. Aber natürlich ist die Möglichkeit des Austausches, der Information wichtig, vor allem natürlich für die Menschen im Land selbst, aber auch mit der Außenwelt.

Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die im Iran entstanden und dort verankert ist, aber deren Echo über die Grenzen hinweggeht, eine Bewegung, für die Solidarität von außen wichtig ist. Aufmerksamkeit und Solidarität können bis zu einem gewissen Punkt schützend wirken.

Aber zu einem anderen transnationalen Aspekt: Ich habe in anderen Kontexten zu der „Interventionsindustrie“ gearbeitet, die bereitsteht, um nach einem Umsturz in Sachen Demokratieförderung tätig zu werden und zu den Themen „state building“ oder auch „transitional justice“ Wissen und Ressourcen beisteuern. Dabei ist die Balance wesentlich: Also Unterstützung, aber ohne den Wandel dominieren zu wollen. Oder ohne vorzugeben, welche Formen ein zukünftiger Staat annehmen soll.

Wie könnte ein möglicher Prozess aussehen? Wie kann sich ein System wie das iranische weiterentwickeln? Oder geht das nur mit einem harten Bruch, etwa einer verfassungsgebenden Versammlung, die bei Null anfängt?

Nach einem Umsturz – wir sind im Iran noch nicht an diesem Punkt, aber er könnte kommen – ergibt sich die Möglichkeit einer tiefgreifenden Transformation. Aber zugleich ist klar: Es lässt sich in solchen Prozessen niemals Tabula rasa machen, man kann nicht bei Null anfangen, weil es ja immer irgendeine Institution oder Referenz braucht, auf die man aufbauen kann. Aber wie sich das im Iran genau entwickelt, ist offen und unwägbar.

In einer Situation des Umsturzes besteht auch die Gefahr, dass Kräfte von außen die Gunst des Augenblicks zu nutzen versuchen. Wie steht es zum Beispiel um die Exil-Iraner, die teilweise noch dem Schah anhängen?

Der Sohn des Schahs hat vor kurzem relativ deutlich gesagt, dass er nicht in den Iran zurückkehren will oder zumindest keinen Machtanspruch stellt. Aber es ist natürlich so, dass es auch noch Monarchisten gibt, zum Beispiel auf der Solidaritätsdemonstration in Berlin konnte man einige Anhänger des Schahs ausmachen.

Ich würde sagen, dass die Unterschiede gegenwärtig zurücktreten, weil es eine gemeinsame Ablehnung der Zustände im Iran gibt. Im Falle eines Umsturzes würde es aber natürlich politische Kämpfe und Auseinandersetzungen geben. So funktioniert nun mal Politik.

Die Fragen stellte Pepe Egger