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Tornadopolitik in der Pandemie?

Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi plädierte in der Dahlem Humanities Center Lecture dafür, die Rolle wissenschaftlicher Expertise in der Politik schärfer einzugrenzen

26.11.2021

Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi hat sich in den vergangenen Jahren mit kontroversen Themen wie dem Brexit, der Corona-Pandemie und der Klimakrise auseinandergesetzt.

Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi hat sich in den vergangenen Jahren mit kontroversen Themen wie dem Brexit, der Corona-Pandemie und der Klimakrise auseinandergesetzt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Er werde zugespitzte Thesen formulieren und freue sich, wenn diese Widerspruch provozieren, kündigt Caspar Hirschi gleich zu Beginn seines Vortrags am 4. November an der Freien Universität Berlin an. Der Historiker ist Professor an der Universität St. Gallen und hat zur Geschichte des Nationalismus geforscht, sich aber in den vergangenen Jahren verstärkt einem kontroversen aktuellen Thema zugewandt: Ist es in einer Demokratie legitim, wenn in Krisenzeiten Expertinnen und Experten politische Entscheidungen treffen?

Die Frage sei zwar in der Corona-Pandemie besonders dringlich geworden, aber schon vorher aufgekommen, etwa rund um die politischen Debatten zur Klimakrise und zum Brexit, betont Caspar Hirschi. Er beobachte eine widersprüchliche Entwicklung: Wissenschaftliche Expertise werde für politische Entscheidungen einerseits immer wichtiger, andererseits sei ihre Rolle auch umstrittener als früher. Befeuert durch einen Erwartungsüberschuss in den Medien, trage Expertise damit zu der zunehmenden Polarisierung von Meinungen bei, die sich in vielen Demokratien beobachten lässt.

Unter welchen Voraussetzungen sollen Expertinnen und Experten anstelle von gewählten Institutionen Entscheidungen treffen?

Diese Entwicklung habe auch damit zu tun, wie bestimmte Begriffe verwendet würden, erläutert der Wissenschaftler: Technokratie, die Herrschaft durch Expertinnen und Experten, werde oft der Demokratie gegenübergestellt. Beides seien aber idealtypische Herrschaftsformen. In der Realität könnten sowohl Demokratien als auch Autokratien wissenschaftliche Expertise zur Grundlage ihrer Politik machen. China und Singapur nannte er als Beispiele für autokratische Technokratien; in Demokratien wiederum würden bestimmte Politikbereiche Expertinnen und Experten überlassen, etwa die Geldpolitik, für die unabhängige Zentralbanken verantwortlich sind.

Die entscheidende Frage sei darum, unter welchen Voraussetzungen Expertinnen und Experten anstelle von gewählten Institutionen Entscheidungen treffen sollten.

Caspar Hirschi zitiert den Politikwissenschaftler Fritz Scharpf, der seiner Untersuchung über die Europäische Union die Unterscheidung zwischen Input- und Output-Legitimation zugrunde gelegt hat. Input bezeichnet, wer die Entscheidung trifft, Output das Ergebnis der Entscheidung. Bei der Input-Legitimation geht es also darum, dass der Wille der demokratischen Mehrheit gehört wird, bei der Output-Legitimation zählt, ob die Entscheidung im öffentlichen Interesse liegt.

Anita Traninger, Romanistikprofessorin an der Freien Universität und stellvertretende Sprecherin des Dahlem Humanities Center, bei der Begrüßung.

Anita Traninger, Romanistikprofessorin an der Freien Universität und stellvertretende Sprecherin des Dahlem Humanities Center, bei der Begrüßung.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die beiden Perspektiven auf Legitimität sollten einander idealerweise ergänzen, das heißt: Die Mehrheit entscheidet im Sinne des Gemeinwohls. Jedoch: „In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist die Komplementarität von Input- und Output-Legitimation an der Realität zerschellt“, konstatiert Caspar Hirschi.

Insbesondere in der Brexit-Debatte sei aufgefallen, dass Input und Output zu Gegensätzen geworden seien. Das „Leave“-Lager berief sich fast ausschließlich auf den Selbstbestimmungswillen des britischen Volkes, während die „Remain“-Kampagne vor den fatalen Konsequenzen warnte, die Expertinnen und Experten für den EU-Austritt prognostiziert hatten. An der Polarisierung habe auch die Vereinnahmung der Expertise für eine Seite der politischen Debatte Mitschuld, argumentiert der Historiker. Zur „output-legitimatorischen Aufrüstung“ sei es, etwa unter den Befürworterinnen und Befürwortern des Brexit, zu einer Gegenbewegung gekommen, hin zu einem „input-legitimatorischen Absolutismus“, der Expertinnen und Experten grundsätzlich als demokratiefeindlich stigmatisiert habe.

In manchen Situationen hat Output Vorrang. Caspar Hirschi verweist auf das Prinzip der „Tornadopolitik“, ein Begriff, den der Politikwissenschaftler Roger Pielke geprägt hat. Bei Wirbelstürmen und anderen drohenden Katastrophen wissen Expertinnen und Experten am besten, wie die Bevölkerung zu schützen ist. Da kann es legitim sein, die demokratischen Entscheidungswege zunächst zu übergehen – allerdings nur dann, wenn ein gesellschaftlicher Konsens über das Politikziel besteht und die Expertengemeinschaft sich einig ist, welche Maßnahmen geeignet sind.

Uneinigkeit über Maßnahmen

In der Pandemie habe es zwar den starken Wunsch nach solch einer „Tornadopolitik“ gegeben, sie sei jedoch nicht gerechtfertigt gewesen, folgert Caspar Hirschi, weil es kein einheitliches Ziel gegeben habe. Es sei vielmehr umstritten geblieben: Sollen alle Infektionen verhindert oder nur das Gesundheitssystem vor Überlastung geschützt werden? Andererseits habe auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oft Uneinigkeit darüber bestanden, welche Maßnahmen geeignet und notwendig sind.

Ein aus Hirschis Sicht vorbildliches Selbstverständnis habe dagegen der IPCC, das internationale wissenschaftliche Beratungsgremium in Klimafragen. Der IPCC betone stets, dass seine vielbeachteten Reports politikrelevant, aber nicht politikpräskriptiv seien.

Um diese Rolle auch in Krisenzeiten zu wahren, müssten Expertinnen und Experten klarer unterscheiden, was fachlicher Rat und was ihre persönliche politische Überzeugung sei, lautet eine der Schlussfolgerungen in Caspar Hirschis Vortrag. Gerade in den Medien und auf Twitter sei diese Trennung nicht leicht. Doch nur so ließen sich Input und Output wieder miteinander in Einklang bringen.

Weitere Informationen

Eine Videoaufzeichnung des Vortrags finden Sie hier.