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„Der Kolonialismus ist heute noch fühlbar“

Von der Black-Lives-Matter-Bewegung bis zum Umgang mit Migration: Die digitale Plattform „Affect and Colonialism Web Lab” ist gestartet

19.08.2021

Das „Affect and Colonialism Web Lab“ ist mit ersten Videos und der ersten Podcast-Folge online gegangen.

Das „Affect and Colonialism Web Lab“ ist mit ersten Videos und der ersten Podcast-Folge online gegangen.
Bildquelle: https://affect-and-colonialism.net/

„Kolonialismus ist nicht etwas, das im 16. Jahrhundert begonnen und vier Jahrhunderte später überwunden war – er ist bis in die Gegenwart wirksam“, sagt Jonas Bens. Wie genau – das soll auf der neuen multimedialen Plattform „Affect and Colonialism Web Lab” gezeigt werden, die der Kultur- und Sozialanthropologe von der Freien Universität Berlin redaktionell mitbetreut. In Podcasts, Videos und einer digitalen Ausstellung gehen Forscherinnen und Forscher, Kunstschaffende sowie Aktivistinnen und Aktivisten der Frage nach, wie der Kolonialismus noch heute im Leben aller Menschen fühlbar ist. campus.leben hat mit Jonas Bens über das Projekt gesprochen, das beim Ideenwettbewerb für internationales Forschungsmarketing 2020 ausgezeichnet worden ist.

Herr Bens, beginnen wir mit einer Begriffsdefinition: Was bedeutet Affekt?

Der Begriff Affekt verweist auf den Bereich des Fühlens, der Emotionen. Er ist dabei sehr umfassend und schließt insbesondere auch Phänomene ein, die wir nur schwer benennen können – etwa Stimmungen und Atmosphären.

Wieso stehen auf der gleichnamigen digitalen Plattform „Affekt und Kolonialismus“ im Fokus?

Der Kolonialismus hat die Welt so nachhaltig strukturiert, dass er bis heute wirksam ist. Das wird daran deutlich, dass Menschen immer noch täglich in ihrem Gefühlsleben damit konfrontiert werden.

Können Sie dafür konkrete Beispiele nennen?

Diskussionen um Straßenumbenennungen, der Umgang mit ethnografischen Sammlungen – wie etwa im Humboldt Forum – oder aber die Frage, ob Kinderbücher, die rassistische Begriffe enthalten, geändert werden sollen, sind ganz konkret aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus. Immer mehr junge Leute vertreten sehr leidenschaftlich Forderungen, dem Klimawandel zu begegnen, der das Resultat einer letztlich kolonialen Wirtschaftsordnung ist: Man soll weniger fliegen und Auto fahren oder vegan leben.

All diese Konflikte lösen sehr starke Emotionen aus: Etwa bei einem Teil der weißen Bevölkerung, der mit bestimmten Begriffen und Lebensweisen aufgewachsen ist, die jahrzehntelang als unproblematisch galten und nun nicht mehr korrekt sein sollen.

Global betrachtet etwa stellt sich die Frage, wie wir mit Migration umgehen: Sie ist das Resultat einer ungleichen Welt, die nach wie vor kolonial strukturiert ist. Auch die Fragestellungen der Black-Lives-Matter-Bewegung fußen letztendlich auf nicht aufgearbeiteten Fragen des Kolonialismus: Afroamerikanerinnen und -amerikaner, die das Gefühl haben, dass sich ihre Situation seit dem Beginn des Kolonialismus und der Sklaverei bis heute nicht stark verändert hat – und dass sie immer noch gegen eine Stimmung der „White Supremacy“ – also „weißer Vorherrschaft“ – ankämpfen.

Der Sozialwissenschaftler Jonas Bens gehört zum Koordinierungsteam des Web Lab „Affect and Colonialism“.

Der Sozialwissenschaftler Jonas Bens gehört zum Koordinierungsteam des Web Lab „Affect and Colonialism“.
Bildquelle: Privat

Kolonialismus ist demnach sowohl zeitlich als auch thematisch sehr umfassend – wie wollen Sie sich dem Gegenstand mit dem Web Lab nähern?

Das Web Lab soll eine Plattform sein, die weltweit Menschen zusammenbringt, die sich mit dem Thema Kolonialismus und wie dieser gefühlt wird, auseinandersetzen. Es geht dabei aber nicht nur um rein wissenschaftliche Arbeiten: Auch Künstlerinnen, politische Aktivistinnen oder Journalistinnen haben die Möglichkeit, ihre Projekte vorzustellen.

Und das in Formaten, die über das dominante Format der Wissenschaft – das gedruckte Buch oder den geschriebenen Aufsatz – hinausgehen: Etwa Videos, Podcasts oder andere Formen, die eine schnelle Intervention ermöglichen und die zugänglich sind. Insgesamt soll daraus dann ein Mosaik aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Das ist das Kernkonzept unseres Web Lab: es ist dezentral, nicht hierarchisch und bringt weltweite Perspektiven zum Thema zusammen.

An wen richten sich die die Inhalte des Web Lab?

Die publizierten Inhalte des Web Lab sind natürlich für eine breite Öffentlichkeit da. Gleichzeitig soll die Plattform aber auch dazu dienen, weltweite Netzwerke zwischen Menschen zu schaffen, die zum Kolonialismus arbeiten. Darüber hinaus gibt es noch ein digitales Fellowship-Programm, bei dem die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst überwunden werden soll. Aktuell arbeiten Jaider Esbel, ein brasilianischer indigener Künstler aus Boa Vista, und Luiza Prado, eine Wissenschaftlerin und Künstlerin aus Brasilien, an einer digitalen Ausstellung, die dann im Web Lab zu sehen sein wird.