Fragen zur Globalität aus dem Mikrokosmos Berlin
Literarische Welten sind das Thema der ersten Jahrestagung des literaturwissenschaftlichen Clusters Temporal Communities vom 7. bis 9. Juli
05.07.2021
Sich mit Kunst und Literatur in globaler Perspektive zu beschäftigen, ist unter Pandemiebedingungen Herausforderung und Chance zugleich. Mehrfach wurde die Konferenz „Worlds of Literature – Competing Notions of the Global“ („Welten der Literatur – konkurrierende Begriffe des Globalen“) des Exzellenzclusters Temporal Communities verschoben und findet nun, nach über zwei Jahren Planung, doch digital statt. Das Programm etwa musste so angepasst werden, dass es für Teilnehmende in den unterschiedlichen Zeitzonen der Welt passt. Dustin Breitenwischer, seit Frühjahr Juniorprofessor für Amerikanistik an der Universität Hamburg, und Samira Spatzek, Postdoktorandin am Cluster, gehören zum Organisationsteam der Tagung. Sie sprechen im Interview über die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Weltliteratur“, über die Möglichkeiten für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler am Cluster und wie man digitale Räume phantasievoll ausgestalten kann.
Mit Literatur können wir vom Sofa aus auf Reisen gehen. Sie führt Leserinnen und Leser in neue Welten. Worum geht es, wenn sich Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit „Welten der Literatur“ beschäftigen?
Dustin Breitenwischer: Auf der Tagung beschäftigen uns zwei Themen, die in der Forschung des Clusters eng zusammenhängen: Zum einen wollen wir über den tradierten Begriff der „Weltliteratur“ diskutieren und zum anderen fragen, wie sich in unterschiedlichen literarischen Welten konkurrierende Formen des Globalen artikulieren. Außerdem wollen wir uns auch mit den Begriffen von Globalität in anderen Disziplinen beschäftigen. So wird etwa Sebastian Conrad, Professor für Globalgeschichte an der Freien Universität Berlin, einen Vortrag über den Begriff des Globalen in seinem Fach halten.
Der Begriff der „Weltliteratur“ – wie auch der „Weltmusik“ oder des „Weltkinos“ – wurde in der letzten Zeit vielfach diskutiert, weil er oftmals in Abgrenzung zu dem der Literatur verwendet wurde.
Breitenwischer: Die Idee von „Weltliteratur“ geht auf Goethe zurück. Und wenngleich diese Idee grundsätzlich inklusiv war und die gegenwärtige Forschung zu Weltliteratur durchaus vielschichtig ist – man denke beispielsweise an die Arbeiten des Literaturwissenschaftlers David Damrosch –, wird doch immer wieder, wenn auch nur in Zwischentönen, unterschieden zwischen einer orientalisierten „Weltliteratur“ und der ‚westlichen‘ Literatur aus Europa und Nordamerika. Diese Deutung trägt bei genauerer Betrachtung noch immer dazu bei, die Welt in zwei literarische Systeme aufzuteilen.
Samira Spatzek: Für den Cluster hingegen ist die Idee des Netzwerks wichtig, um solche Abgrenzungen zu hinterfragen und zu überwinden. Dabei hilft es auch, weiter in der Zeit auszugreifen und zum Beispiel Ansätze zum weltliterarischen Denken im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu untersuchen – wie etwa in der Auseinandersetzung mit dem Werk des Renaissancedichters Petrarca.
Breitenwischer: Ausgehend von seinem Werk sind über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neue literarische Gemeinschaften entstanden, die sich aufeinander bezogen und voneinander abgegrenzt haben. Und nicht nur literarische Inhalte und Themen wirken über Zeit und Raum hinweg, auch ästhetische Formen werden immer wieder neu aufgegriffen. So spielt das Shakespeare’sche Sonett als tradierte „weiße“ Form in der afroamerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, die dann mit ganz anderen soziokulturellen Inhalten gefüllt wird und politische Kraft entwickelt.
Umgekehrt können auch bestimmte historische und politische Konstellationen Ausgangspunkt für internationale literarische Gemeinschaften werden, wie ein Tagungsbeitrag über Berlin in den 1960er-Jahren zeigt.
Breitenwischer: Hier geht es um Berlin als ein Epizentrum des Kalten Krieges, in dem nicht nur zwei konkurrierende Vorstellungen von Macht, von Vorherrschaft, von kultureller und ideologischer Deutungshoheit zusammentreffen, sondern auch zwei Vorstellungen von Globalisierung und Globalität. Und das alles auf wenigen Quadratkilometern in einem Mikrokosmos Berlin. Welche Strahlkraft hatte diese Stadt, welche magnetische Anziehungskraft?
Vor dem Hintergrund dessen, was Sie geschildert haben: Gibt es überhaupt Literatur, die keine „Weltliteratur“ ist – wie der Titel eines Vortrags der Tagung lautet?
Breitenwischer: Jede Literatur hat potenziell globale Relevanz. Aber wir haben natürlich Sprachbarrieren und Distributionsstrukturen. Wenn wir von einer globalen Literatur sprechen, müssen wir berücksichtigen, dass die Märkte für Literatur heute national und anglofon geprägt sind, was dazu führt, dass vor allem englischsprachige Literatur – egal von welchem Kontinent – auf weltweite Resonanz stößt und überall gelesen wird.
Spatzek: Der Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Rebecca Walkowitz, die derzeit Fellow am Cluster ist, beschäftigt sich daher mit Englisch als „zusätzliche Sprache“ und der Frage, was geschieht, wenn dominierende Sprachen die minorisierten Sprachen überdecken. Es geht hier auch darum, sich mit der Gleichzeitigkeit und Relativität von Sprachkenntnissen und dem Vorhandensein von mehreren Sprachen innerhalb nationaler Kulturen auseinanderzusetzen.
Auf einer solchen Jahrestagung zeigt sich die große interdisziplinäre Vielfalt eines Clusters. Wie profitierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Anfang ihrer Laufbahn davon und welche Möglichkeiten haben sie darüber hinaus an einem solchen Forschungsverbund aus der Exzellenzstrategie?
Spatzek: Bei meiner Forschung als Postdoktorandin geht es um die Verbindung zwischen Gesellschaftlichkeit, Literatur und Mode – und Mode auch im Sinne von den materiellen Objekten: Textilien. Eine solche Einbeziehung verschiedener Medien und Kunstformen in ein Projekt ist noch neu. Dadurch, dass am Cluster verschiedene Formen von Interdisziplinarität erprobt werden, bieten sich viele Entwicklungsmöglichkeiten für mein Projekt.
Breitenwischer: Durch die großzügige Förderung in der Exzellenzstrategie hatte ich, bevor ich den Ruf an die Universität Hamburg erhalten habe, viele Möglichkeiten, Stränge der eigenen Forschung in Form von Konferenzen und Workshops, Vorträgen von Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern intensiv und eigenständig zu bearbeiten. Nur ein Beispiel: Einige Beiträge einer Tagung, die ich als Nordamerikanist mit Jasmin Wrobel, die als Postdoktorandin am Cluster zu Lateinamerika forscht, organisiert habe, erscheinen demnächst als erweitertes Themenheft einer international anerkannten Fachzeitschrift und zur Tagung selbst konnten wir einen Konferenz-Comic produzieren.
Nach über zwei Jahren Vorbereitung startet diese Woche nun die Tagung. Was freut Sie besonders?
Breitenwischer: Ich freue mich auf die Vielfalt der Vorträge und nicht zuletzt auch auf die Lesung des argentinischen Autors Sergio Raimondi und das Gespräch hinterher zwischen ihm und der Lateinamerikanistin Susanne Klengel über Gaspipelines, Möwen oder Mikroorganismen wie Archaeen. Es ist großartig, dass am Cluster auch immer wieder die Produktion von Literatur eine Rolle spielt.
Spatzek: Mich begeistert sehr, wie bei dieser Tagung die Möglichkeiten des Digitalen genutzt werden, um das Nervige an einer Online-Konferenz auf phantasievolle und spielerische Weise ein wenig angenehmer zu machen: Eine tolle Konferenzseite, Videoeinführungen, um sich bei den Panels ganz auf Vortrag und Diskussion konzentrieren zu können, digitale Begegnungsräume. „Building Digital Communities“ – digitale Gemeinschaften stiften, ist ein Forschungsfeld des Clusters. Wie die große Expertise und die praktischen Fähigkeiten von Kolleginnen und Kollegen hier zum Tragen gekommen sind, finde ich unglaublich toll.
Die Fragen stellte Nina Diezemann
Weitere Informationen
Die Jahrestagung „Worlds of Literature - Competing Notions of the Global” des Exzellenzclusters Temporal Communities findet vom 7. bis 9. Juli online statt. Eine Registrierung ist auf der Tagungsseite möglich. Die Lesung von Sergio Raimondi ist eine Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin und wird von der Website des LCB gestreamt.
Die Tagung wurde organisiert von der Research Area 1 des Clusters: Competing Communities. Konzeption: Frank Kelleter, Professor für Amerikanistik Berlin und Miltos Pechlivanos, Professor für Neogräzistik an der Freien Universität Berlin sowie Chunjie Zhang, Associate Professor für Germanistik an der University of California, Davis.