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Kein blindes Vertrauen

Zwei Wissenschaftlerinnen der Freien Universität vergleichen in einer Studie die öffentliche Meinung zu Pandemiebekämpfungsmaßnahmen in westlichen Ländern und in China

24.11.2020

Die Nutzung der deutschen Corona-Warn-App basiert auf Freiwilligkeit - anders als die Nutzung des "Gesundheitscodes" in China.

Die Nutzung der deutschen Corona-Warn-App basiert auf Freiwilligkeit - anders als die Nutzung des "Gesundheitscodes" in China.
Bildquelle: privat

Alipay und Wechat waren schon vor Corona in China allgegenwärtig. Mit den beiden Apps kann man kontaktlos bezahlen, Taxis rufen, Essen bestellen, Geld anlegen, Versicherungen abschließen, Reisen buchen. In diesem Frühling kam noch eine mächtige Funktion hinzu: der Gesundheitscode, der das das Risiko jeder Nutzerin und jedes Nutzers, an Corona erkrankt zu sein, einschätzt und einen QR-Code erstellt. Dieser wird unter anderem vor Wohnkomplexen und in Einkaufszentren gescannt; seine Farbe entscheidet über den Zugang: Grün heißt Bewegungsfreiheit, Gelb vorsorgliche Isolation, bei Rot werden zwei Wochen Quarantäne angeordnet.

Der Gesundheitscode war die weltweit erste Kontaktverfolgungs-App und ist die wohl rigoroseste Variante: Anders als die deutsche Corona-Warn-App ist die Nutzung des Gesundheitscodes in China Pflicht; anstatt einer puren Abstandsmessung mit Bluetooth wie in Deutschland, fließen bei dem chinesischen Code zahlreiche persönliche Daten in die Risikobewertung ein, die auch mit den Behörden geteilt wird. Und dennoch: In China heißen 80 Prozent der Bevölkerung den Gesundheitscode gut, während die Corona-Warn-App und andere Apps in Deutschland und den USA nur bei rund 40 Prozent der Menschen auf Zustimmung treffen.

Das ist das Ergebnis einer Umfrage mit 6464 Befragten in den drei Ländern, die Genia Kostka und Sabrina Habich-Sobiegalla in Auftrag gegeben und ausgewertet haben. Die beiden Professorinnen am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin haben ihre Studie als Preprint online veröffentlicht. Es ist die erste Studie, die die öffentliche Meinung zu Pandemiebekämpfungsmaßnahmen in westlichen Ländern und in China vergleicht.

Zwischen drei Kontinenten zu vergleichen, ist komplex. Insbesondere in China sind repräsentative Umfragen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Zum einen ist das Land mit einer Bevölkerung von rund 1,3 Milliarden Menschen vielfältiger als oft angenommen wird. Zum anderen macht es der politische Kontext nicht einfach, unabhängige sozialwissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen. Genia Kostka und Sabrina Habich-Sobiegalla haben die 36 Fragen für ihre Studie entworfen und die Antworten ausgewertet; mit der eigentlichen Befragung haben sie ein Berliner Meinungsforschungsunternehmen beauftragt.

Nutzerinnen und Nutzer einer Vielzahl von Apps und Webbrowsern wurden mit Werbeanzeigen zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen. Den Befragten wurde Anonymität zugesichert, doch bei manchen Fragen müsse man im Hinterkopf behalten, dass die Angst vor Repression die Antworten beeinflussen könnte, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla. In Deutschland etwa zeigt die Umfrage einen Zusammenhang zwischen der Sorge mancher Bürgerinnen und Bürger, von der Regierung überwacht zu werden, und der Skepsis gegenüber den Kontaktverfolungs-Apps und ähnlichen Technologien. In China lässt sich dieser Zusammenhang nicht feststellen. Bei solch heiklen Themen müssten die Daten deshalb mit Vorsicht interpretiert werden, rät die Forscherin.

Datenschautz ist in allen Ländern ein Thema

Was die Wissenschaftlerinnen an den Ergebnissen bemerkenswert finden, sind jedoch weniger die großen Unterschiede zwischen den Ländern, sondern dass sich dahinter ähnliche Muster zeigen. Die Zustimmung zur App ist höher unter denjenigen Befragten, die sie für eine wirksame Maßnahme bei der Bekämpfung der Pandemie halten, die bereits Erfahrung mit ähnlichen Apps gesammelt haben und die keiner Verschwörungsideologie zustimmen, die die Pandemie verharmlost. Die Zustimmung sinkt hingegen, je größer die Sorge um den Datenschutz ist.

„Es heißt oft, dass in China Datenschutz keine Rolle spielt. Aber das tut er“, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla. Der Unterschied zu westlichen Ländern: Während die Befragten in China eher Misstrauen gegenüber Technologiekonzernen äußerten, ist die berichtete Angst vor Regierungsüberwachung geringer, im Westen ist es genau umgekehrt. Auch wenn die Apps von Technologiekonzernen entwickelt wurden, werden sie in den drei Ländern vor allem mit den Regierungen in Verbindung gebracht, die die Apps in Auftrag gegeben und empfohlen oder verpflichtend gemacht haben.

Dass das Vertrauen in den Staat in China größer ist, zeigt sich auch in der Frage, wem die Befragten die Kompetenz zuschreiben, die Pandemie zu bekämpfen. Während besonders in den USA die individuelle Verantwortung hervorgehoben wird, sieht man in China vor allem die Rolle der Zentralregierung als entscheidend an. Dieses Vertrauen ist aber nicht bedingungslos: Als Anfang des Jahres bekannt wurde, dass frühe Hinweise unter anderem des Arztes Li Wenliang auf eine neue gefährliche Lungenkrankheit in Wuhan unterdrückt worden waren, herrschte breite Empörung. „Als Li Wenliang an seiner Covid-19-Erkrankung starb, folgte in den chinesischen sozialen Medien eine bis dahin nicht gesehene Kritikwelle, die sich auch gegen die Zentralregierung wandte“, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla.

Es waren nicht nur die harten Maßnahmen, die die Regierung daraufhin ergriffen hat, die das Vertrauen wiederhergestellt haben. „In China gilt: Bürgerinnen und Bürger dürfen die Politik im gewissen Rahmen kritisieren – das Ausland aber nicht“, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla. Als die Kritik insbesondere aus den USA zunahm, sei sie im Inland verstummt. „So funktioniert Nationalismus“, sagt die Sinologin. Auch den Lokalregierungen, sonst oft der Korruption verdächtigt, wird in der Umfrage, die im Juni durchgeführt wurde, eine effektive Politik attestiert.

Für eine funktionierende Kontaktverfolgung in der Coronavirus-Krise ist die große Mehrheit der Menschen in China also bereit, Datenschutzbedenken hintanzustellen. Diese Bereitschaft scheint bei vielen aber nur wegen der Schwere der Krise zu bestehen: Als die Lokalregierung der Stadt Hangzhou erklärte, den Gesundheitscode auch nach der Krise beibehalten zu wollen, gab es vehementen öffentlichen Protest, berichtet Sabrina Habich-Sobiegalla. „Die Lokalregierung hat deshalb einen Rückzieher machen müssen. Jetzt heißt es, man wolle die Idee noch einmal überprüfen.“