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Projekt Afrika

Bei der ersten „Berlin Southern Theory Lecture“ plädierte der senegalesische Wissenschaftler Felwine Sarr für eine „Dekolonisation des Denkens“

08.01.2020

Felwine Sarr, Ökonom an der senegalesischen Université Gaston Berger in Saint Louis, hielt den Auftaktvortrag der neuen Lecture-Reihe. Hier im Gespräch mit Kai Kresse, Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin.

Felwine Sarr, Ökonom an der senegalesischen Université Gaston Berger in Saint Louis, hielt den Auftaktvortrag der neuen Lecture-Reihe. Hier im Gespräch mit Kai Kresse, Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Amely Schneider

Wenn derzeit junge Menschen in Afrika an einer Universität ihres Kontinents studieren, lernen sie vor allem Theorien kennen, die in Europa oder Amerika entstanden sind. Philosophiestudierende hören zum Beispiel viel über Kant oder Descartes, jedoch so gut wie nichts von afrikanischen Denkern und Denkerinnen. „Junge Menschen könnten auf diese Weise den Eindruck bekommen, dass alles Wissen von außerhalb kommt“, sagte Felwine Sarr. „So, als ob in ihrer Region nie Wissen produziert worden sei.“ Ein Gedanke, der noch absurder erscheine, wenn man bedenke, dass in Afrika die Geschichte der Menschen begonnen hat. „Wie hätten sie so lange überleben können, wenn sie nicht nachhaltiges Wissen entwickelt und weitergegeben hätten?“, fragte Sarr im voll besetzten Foyer der Museen Dahlem.

Die erste „Berlin Southern Theory Lecture“ fand im Foyer der Museen Dahlem statt.

Die erste „Berlin Southern Theory Lecture“ fand im Foyer der Museen Dahlem statt.
Bildquelle: Amely Schneider

Der senegalesische Ökonom und Geistes- und Sozialwissenschaftler hielt im Dezember den Auftaktvortrag der „Berlin Southern Theory Lecture“. Die Veranstaltungsreihe, die vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin und dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient organisiert wird, ist ein neues Format, das Denkern und Denkerinnen aus afrikanischen, südamerikanischen oder asiatischen Ländern eine öffentliche Plattform bieten will. Ideen und wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem globalen Süden sollen auf diese Weise mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Afrikanische Wissenstraditionen in die Universitäten bringen

„Die Welt ist multizentrisch geworden, für unsere wissenschaftliche Theoriebildung gilt das aber kaum“, sagt Sandra Calkins, Juniorprofessorin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität, in ihrer Eröffnung. „In unserer Lecture wollen wir Theorien über die Welt mitdenken, die unser Verständnis der Gegenwart erweitern.“

In seinem Vortrag mit dem Titel „Rewriting the humanities from Africa: for an ecology of knowledge“ plädierte Felwine Sarr für eine Zukunft, in der die eigenen Wissenstraditionen Afrikas in alle gesellschaftlichen Bereiche einziehen. Dazu sei eine Dekolonisation des Denkens nötig. „Der erste Schritt zur Emanzipation ist Wissen“, sagte Sarr. „Afrikaner haben zu einer Vielzahl von Wissen beigetragen, man findet es nur nicht in den Universitäten. Wir müssen es erst dorthin bringen.“

Neben Texten auch Musik, Tanz, Theater oder Kunst als Quellen nutzen

Geisteswissenschaftlern eröffneten sich neue Perspektiven, wenn sie sich den vielfältigen Archiven der Wissensproduktion zuwendeten, die nicht nur auf schriftlich fixierten Denktraditionen beruhen, sondern sich auch aus Quellen wie Musik, Tanz, Theater oder Kunst speisen. Zudem sei auch die Vielfalt afrikanischer Sprachen Träger der ureigenen Kulturen und sollte Sarr zufolge deshalb mehr Beachtung finden.

Felwine Sarr lehrt Ökonomie an der University Gaston Berger in Saint Louis. Er arbeitet zu Makro- und Entwicklungsökonomie, Wirtschaftspolitik, zu Erkenntnistheorien sowie Religionsgeschichte. Im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erarbeitete er im Jahr 2018 gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy von der Technischen Universität Berlin Kriterien, um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter der Kolonialzeit aus französischen Museen zu ermöglichen.

Afrika – ein Laboratorium für eine neue Welt

In seinem wissenschaftlichen Essay „Afrotopia“ aus dem Jahr 2016, der in diesem Jahr auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, analysiert er die Dekolonisation Afrikas und sucht nach Ideen, wie sich afrikanische Gesellschaften neu definieren können – ohne die Geschichte westlicher Industriestaaten zu reproduzieren.

„Afrika könnte ein Laboratorium für eine neue Welt sein“, sagte Sarr. Eine Art Projekt. Denn im Jahr 2100 sollen Prognosen zufolge 40 Prozent der Weltbevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent leben. Das wären mehr als vier Milliarden Menschen, unter ihnen so viele junge Leute wie nirgendwo sonst auf der Erde.

Sie könnten, sagte Sarr, aus den Fehlern der westlichen Industrieländer lernen, indem sie sich nicht länger an euroamerikanischem Fortschrittsdenken und dem Ideal ständigen Wachstums messen, sondern sich an ihre Traditionen erinnern, in denen das Gleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie stets eine Rolle gespielt hätte. „Eine Zivilisation basiert nicht nur auf materiellen Werten, auch spirituelle, philosophische und ethische Werte geben ihr Sinn und Richtung“, sagte Sarr.

Globales Wissen für Weltenbürger

Der Wissenschaftler wünscht sich eine postkoloniale Bibliothek, die den vielfältigen in afrikanischen Gesellschaften vorhandenen Archiven, Gedanken und Kenntnissen Ausdruck verleiht. Dazu sei ein geistiger Wandel nötig, eine epistemische Neuausrichtung, die die Pluralität verschiedener Quellen des Wissens und Denkens anerkennt.

„Die Geisteswissenschaften, wo immer sie auch herkommen, gehören allen Menschen überall auf der Welt“, sagte Kai Kresse bei der sich anschließenden Podiumsdiskussion. Der Professor vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität und Vizedirektor am Leibniz-Zentrum Moderner Orient arbeitet zu philosophischen Traditionen in Ost-Afrika. „Wenn wir uns als Weltenbürger verstehen, sollten wir alle Ressourcen des Wissens für alle zugänglich machen.“

Die „Berlin Southern Theory Lecture“ soll künftig immer im Dezember stattfinden. Die Veranstaltungen sollen zu einem globalen Wissensaustausch beitragen und postkoloniale Asymmetrien aufzeigen, damit theoretische Debatten in den Sozial- und Geisteswissenschaften an Vielfalt gewinnen.