„Like- und Followerzahlen nicht überbewerten“
Juniorprofessorin Ulrike Klinger sprach an der Urania Berlin im Rahmen der Reihe „made in Dahlem: Junge Forschung aus der Freien Universität“
06.11.2019
Durch die Digitalisierung wandelt sich vieles teils radikal: vor allem die öffentliche Kommunikation und auch die Politik. Traditionelle Medien wie Fernsehen und Zeitungen verlieren an Vertrauen und Bedeutung. Stattdessen informieren sich immer mehr Menschen über soziale Medien, Facebook, Twitter oder Instagram sind ihre Nachrichtenquellen.
Fragmentierte Öffentlichkeit
Was sie dort angezeigt bekommen, ist allerdings speziell auf sie abgestimmt: Jeder Nutzer sieht andere Inhalte — welche das sind, bestimmen maßgeblich die Algorithmen der Betreiberfirmen. Zudem versuchen politische Gruppierungen, den Diskurs mit automatisierten Verfahren in ihrem Sinne zu beeinflussen. „Wir erleben eine Fragmentierung der Öffentlichkeit, in der alle nebeneinander her reden und nicht miteinander“, sagt Ulrike Klinger. „Der Meinungsbildungsprozess findet auf kommerziellen Plattformen statt, wo er leicht zu manipulieren und schwer zu beobachten ist.“
Ulrike Klinger ist Juniorprofessorin für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin und leitet die Forschergruppe „Nachrichten, Kampagnen und die Rationalität öffentlicher Diskurse“ am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft.
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „made in Dahlem: Junge Forschung aus der Freien Universität“ an der Urania gab sie kürzlich einer breiten Öffentlichkeit Einblick in ihre Forschung. Unter dem Titel „Algorithmen, Bots und Trolle: Wahlkämpfe und Meinungsbildung in digitalen Zeiten“ stellte sie die wichtigsten Entwicklungen des gegenwärtigen Medienwandels in Grundzügen dar — und gab am Ende auch Empfehlungen für das eigene Handeln.
„Laut dem Soziologen Niklas Luhmann ist die wichtigste Funktion von Öffentlichkeit die Selbstbeobachtung der Gesellschaft“, sagte Klinger. „Über medial vermittelte Öffentlichkeit verständigen wir uns darüber, welche Themen für unsere Gesellschaft relevant sind, und welche Ideen wir haben, um diesen zu begegnen.“
Durch die Personalisierung von Suchergebnissen gibt es keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr
Doch dieses Modell werde durch soziale Medien grundlegend in Frage gestellt. Der Grund: Die Öffentlichkeit ist zunehmend keine gemeinsame mehr – Werbung, Empfehlungen für Artikel oder sogar Wahlkampfbotschaften werden auf sozialen Netzwerken personalisiert geschaltet. Auf der „Chronik“ von Facebook etwa werde nicht neutral alles abgebildet, was die eigenen Freunde posten. Der Algorithmus der Firma selektiert, was er aufgrund der Datenlage für den individuellen Nutzer für relevant hält.
„Suchmaschinenergebnisse sind personalisiert, und auch Online-Nachrichtenseiten experimentieren mit Personalisierung. Sie“, wandte sich die Kommunikationswissenschaftlerin ans Publikum, „könnten dann eine ganz andere Vorstellung davon bekommen, was heute in der Zeitung stand, als ich.“ So werde es immer schwieriger, sich als Gesellschaft über gemeinsame Probleme zu verständigen.
Hyperaktive Accounts täuschen falsche gesellschaftliche Mehrheiten und Stimmungen vor
Zudem kann der politische Meinungsbildungsprozess durch den Einsatz von sogenannten Social Bots beeinflusst werden. Dabei handelt es sich um teilweise oder vollständig automatisierte Social Media Accounts. Automatisierung würde unter anderem dafür genutzt, Themen oder Menschen populärer erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit sind. „Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass sehr viele Menschen eine bestimmte Meinung vertreten, obwohl es sich in Wahrheit nur um eine verschwindend geringe Anzahl handelt“, sagte Klinger. Hyperaktive Accounts, die von Menschen selbst, teil- oder ganz automatisiert betrieben werden, können falsche gesellschaftliche Mehrheiten und Stimmungen vortäuschen.“
Dies sei vor allem in Hinblick auf die von der Soziologin Elisabeth Noelle-Neumann in den siebziger Jahren formulierte Theorie der „Schweigespirale“ ein gesellschaftliches Problem. Demnach trauen sich Menschen weniger, ihre Meinung zu äußern, wenn sie sich damit in der Minderheit glauben. „Wenn man eine bestimmte Meinung als Mehrheitsmeinung inszeniert, lassen sich andere Meinungen zum Schweigen bringen“, sagte Klinger.
Lautstarke Minderheiten
In der anschließenden Diskussion mit der Kommunikationswissenschaftlerin meldeten sich zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer und stellten Fragen. Vor allem dazu, wie man persönlich und politisch mit den gegenwärtigen Herausforderungen umgehen sollte. Klinger gab den Rat, Like- und Followerzahlen nicht überzubewerten. „Im Internet haben wir es oft mit lautstarken Minderheiten zu tun“, sagte sie. „Themen und Meinungen online sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.“ Daneben rät Klinger, nichts zu teilen, was man nicht vorher selbst gelesen hat – und sich nicht allein auf Gratis-Inhalte zu verlassen.
Gesamtgesellschaftlich brauche es mehr Medienkompetenz für alle Altersklassen – und einen Zugang zu den Daten, die die Internetkonzerne sammeln. Nur so könne die Wissenschaft verstehen, was auf den Plattformen der sozialen Medien wirklich geschieht.
Weitere Informationen
Die Veranstaltungsreihe „made in Dahlem: Junge Forschung aus der Freien Universität“ ist im Februar gestartet. Die Kooperation von Freier Universität Berlin und Urania Berlin wird im Dezember mit dieser Veranstaltung fortgesetzt:
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6. Dezember 2019, 19.30 Uhr: „Emotionen im Feld" - wie gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den eigenen Gefühlen um, die durch ihre Arbeit hervorgerufen werden?
Bisher in „made in Dahlem: Junge Forschung aus der Freien Universität“
- Informatikprofessor Matthias Wählisch hielt am 19. Februar einen Vortrag über das „Internet der (kleinen) Dinge“
- Informatikprofessor Tim Landgraf war am 11. April „Unterwegs mit den Bienenrobotern“
- Psychologieprofessorin Christine Knaevelsrud fragte am 6. Juni: „Depressionen online therapieren?"